Der ruandische Pastor Gratien Mitsindo hat während des Genozids vor 20 Jahren das Leben von 320 Menschen gerettet. Auf seiner Weltreise ist unser Kolumnist Johannes Nedo einem beeindruckenden Mann begegnet.

Kigali – Langsam, mit kleinen Schritten schreitet Gratien Mitsindo durch den „Garten der Versöhnung“, vorbei an dichten grünen Büschen, Hecken und einem kleinen Brunnen. Der Pfad führt ihn an einen Platz, dessen Boden allein mit großen grauen Steinplatten bedeckt ist und in dessen Mitte zwei Kränze liegen. Gratien Mitsindo blickt zu Boden – und fragt nach nur wenigen Augenblicken: „Können wir weitergehen?“

 

Er kommt oft hierher, er mag die Parkanlagen der Genozid-Gedenkstätte in Ruandas Hauptstadt Kigali sehr. Doch an den großen Steinplatten hält er es nicht lange aus. Unter ihnen befinden sich Massengräber, die Leichen von bis zu 250 000 Ruandern wurden 1994 hier von ihren Mördern verscharrt – fast ein Fünftel aller Opfer des Völkermordes. Mitsindo ist ein kräftiger Mann mit breiten Schultern. Er trägt ein weites Hemd mit Blumenaufdrucken und eine Sonnenbrille, hinter der seine Augen kaum zu erkennen sind. Der 57-Jährige sagt, er könne mittlerweile gut über die Ereignisse von 1994 reden. Über den Wahn, von dem sein Land damals erfasst wurde. Über die ständige Lebensgefahr, in die er sich begab, weil er als Hutu 320 Tutsis bei sich aufnahm. Doch manchmal übermannen ihn die Erinnerungen. Äußerlich merkt man es ihm nicht an, er weint nicht oder hadert. Er zeigt keine Schwäche. Aber seine Erzählungen werden kürzer, abgehackter. Und dann sagt er: „Man muss stark sein, um Gutes zu tun. Doch irgendwann fühlte auch ich mich einsam.“

Er war bereit, sein eigenes Leben zu geben

Seit 30 Jahren ist Gratien Mitsindo Pastor der freikirchlichen Pfingstgemeinde Ruandas. Er hat neun Kinder und fünf Adoptivkinder. Als er im Jahr 1984 sein Amt antrat, setzte er sich vor allem ein Ziel: er wollte vermitteln. Zwischen Hutus und Tutsis. „Die Spannungen zwischen beiden Volksgruppen wurden immer größer“, sagt er. Doch Gratien Mitsindo konnte nur beobachten, „wie der Hass weiter wuchs“. Und wie er sich so weit steigerte, dass die ethnische Mehrheit der Hutus den schrecklichen Plan ersann, die Tutsis komplett auszulöschen. Am 6. April 1994 begann in Ruanda ein Genozid von unvorstellbarem Ausmaß – Killerkommandos der Hutus, die Interahamwe, mordeten im Blutrausch. Einen Tag später standen zwei Tutsis vor Gratien Mitsindos Pfarrhaus in Kigali und baten um Schutz. Er nahm sie auf. Immer mehr Verfolgte kamen, insgesamt 320 Menschen, er nahm sie auf. Versteckte sie in der Kirche, auf dem Dachboden, sogar unter den Betten. Warum er es tat? Gratien Mitsindo zögert keine Sekunde: „Es war doch meine Pflicht.“

Am 10. April standen dann auch die Interahamwe vor seiner Tür. Er solle ihnen die Tutsis übergeben, forderten sie. Doch Gratien Mitsindo stellte sich mit seinen breiten Schultern und ohne ein Zeichen von Schwäche vor sie, zog sein Hemd aus und sagte: „Dann müsst ihr mich und meine Familie auch töten!“ Die Interahamwe zogen ab, offenbar hatten sie vor der Kirche noch ein Fünkchen Respekt. „Vor allem aber waren sie sich sicher: sie können jederzeit kommen und uns umbringen“, sagt er. Die Tutsis in Mitsindos Haus wurden immer verzweifelter. Er versuchte sie zu beruhigen. Und die Interahamwe kamen wieder. Jeden Tag und jede Nacht. Er zeigte keine Schwäche. Immer wieder trat er den Interahamwe gegenüber. „Ich hatte keine Angst. Ich weiß nicht, warum. Aber ich war bereit zu sterben. Ich habe mich einfach getraut, auf der Seite der Verfolgten zu stehen.“

Erst als Kakerlake beschimpft, dann als Retter gefeiert

Nach fünf Wochen erreichte eine Armee aus Exil-Ruandern, überwiegend Tutsis, das Pfarrhaus und vertrieb die Killerkommandos. Doch das Morden ging in den anderen Landesteilen weiter – noch zwei Monate lang. Die Tutsis aus Mitsindos Haus mussten sich in den Bergen verstecken. „Aber alle haben überlebt“, sagt Mitsindo. Er, zuvor als „Kakerlake“ beschimpft, wurde nun als „Retter“ gefeiert. Doch nicht von allen. Einige Kirchenoffizielle verleumdeten ihn als Spitzel, weil er Tutsis geholfen hatte. Während des Völkermordes gab es viele Fälle, bei denen Geistliche zu Handlangern der Täter wurden. Verfolgte Tutsis, die Zuflucht in Kirchen suchten, wurden von Priestern an die Interahamwe verraten. „Manche verachteten mich“, sagt Mitsindo. „Aber ich bin stolz auf meine Taten.“

Laut offiziellen Erhebungen der ruandischen Regierung ist nun, 20 Jahre nach dem Völkermord, der Versöhnungsprozess zu 80 Prozent abgeschlossen. Trotz aller Fortschritte, die das kleine Land in Ostafrika seither gemacht hat, so euphorisch sieht Mitsindo die Lage in seiner Heimat noch nicht: „Der Krieg hat viel zerstört, auch in den Menschen. Nicht alle können vergeben. Viele verstecken ihre wahren Gefühle.“ Gratien Mitsindo ist optimistisch, dass Ruandas Volk wieder zu einer echten Einheit zusammenwächst. „Aber“, sagt er, „das braucht Zeit.“ Das merkt er besonders während seiner Besuche in der Genozid-Gedenkstätte.

Kolumne
Johannes Nedo reist mit seiner Frau neun Monate durch Afrika und Südamerika. In der StZ berichtet er von seinen Abenteuern und von besonderen Begegnungen.