75 Jahre nach dem Russland-Feldzug sollte sich die deutsche Politik endlich vor den 27 Millionen Opfern verneigen.

Berlin - Was tut unser Bundespräsident am 22. Juni, dem 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion? Er wird in Rumänien weilen – also in dem Staat, der am selben Tag vor 75 Jahren gemeinsam mit Deutschland in der Sowjetunion einfiel, dessen Soldaten und Polizisten in Moldawien, Transnistrien und in der Region Odessa an die 250 000 Juden ermordeten. Am Nachmittag des 22. Juni wird Joachim Gauck nach Bulgarien weiterreisen – zu jenem Ex-Verbündeten, mit dem die Wehrmacht 1941 Jugoslawien und Griechenland niedermachte. Dort wird er „am Ehrendenkmal des Unbekannten Soldaten“ einen Kranz niederlegen. Die rumänischen Kriegskameraden von einst, darunter tausende Massenmörder, wird er bereits am 20. Juni am Bukarester Grabmal des Unbekannten Soldaten ehren. Die Terminierung der Reise, die Kranzroutinen zur falschen Zeit an falschen Orten zeigen bedenkliche Defizite an Geschichtsbewusstsein. Mit seinem Programm verletzt Gauck die Gefühle von Millionen Familien, deren Angehörige in der damaligen Sowjetunion dem deutschen Terror anheimfielen, in Zwangsarbeit und viele Notjahre getrieben und zu Millionen ermordet wurden.

 

Gauck fällt aus – Merkel ist gefragt

Unbedacht hat die Bundeskanzlerin für den Mittag des 22. Juni Deutsch-Polnische Regierungskonsultationen in Berlin anberaumt. Ursprünglich sollte auch im Bundestag nur das Übliche stattfinden. Doch vor Kurzem, von dieser Kolumnenserie beflügelt, regte die Fraktion der Linken eine Korrektur an. So gelangte vergangene Woche der Punkt „Vereinbarte Debatte 75. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion“ auf die Tagesordnung (vorgesehene Dauer: 65 Minuten). Zunächst sollte das Thema in der Mittagszeit des 22. Juni vor leeren Stühlen abgehandelt werden. Doch wurde es am vergangenen Freitag auf 16.30 Uhr verschoben. Ob doch noch Regierungsmitglieder teilnehmen werden?

Das lange Nicht-Verhalten spricht für ein zumindest zeitweiliges multiples Versagen unserer politischen Repräsentanten. Bis vor wenigen Tagen wollten die meisten von ihnen nicht wahrhaben, dass am 22. Juni über den größten Raub-, Eroberungs- und Vernichtungskrieg der Weltgeschichte zu reden ist – angezettelt von Deutschland. Die damals entstandenen Massentraumata und Ängste, die von deutschen Aggressoren gezielt angestachelten Feindschaften zwischen einzelnen Völkern belasten Europa bis heute. Das darf kein vernünftiger Mensch ignorieren. Gauck fällt aus – nun ist Angela Merkel gefragt.

Unverzeihlicher Mangel an historischer Verantwortung

Am 20. Juni 1941 wies der für die zu erobernde Sowjetunion zuständige Minister Alfred Rosenberg seinen Mitarbeitern die Richtung: Während die Ukraine „nach Westen gerichtet“ werde, müsse „Moskowien“ sein „Gesicht wieder nach Osten wenden“ und für immer in den „sibirischen Raum“ abgedrängt werden. Als die deutsche Führung am 16. Juli 1941 ihre Ziele präzisierte, erklärte Hitler, es gelte, „den riesenhaften Kuchen (Sowjetunion) handgerecht zu zerlegen, damit wir ihn erstens beherrschen, zweitens verwalten und drittens ausbeuten können“. Wer davon und von den damit verbundenen Menschheitsverbrechen schweigt, sich nicht vor den 27 Millionen sowjetischen Kriegsopfern verneigt, der offenbart einen unverzeihlichen Mangel an menschlichem Mitgefühl und historischer Verantwortung.

Vorschau
Am kommenden Dienstag, 28. Juni, schreibt an dieser Stelle unserer Autorin Sibylle Krause-Burger.