Kaum einer sieht die Stadt noch – sie ist an allen Ecken mit Bauzäunen umhüllt. Unverhüllt stellen sich Studentinnen in den Weg. Ihr Kunst-Kalender spottet mit Nackfotos über den Erneuerungseifer im Kessel.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Mehr als weiße Stiefel und einen weißen Helm trägt sie nicht. Für einen schnellen Fotoschuss steht Justyna Koeke von der Medienwerkstatt der Kunstakademie nackt auf einem Betonpodest beim Wagenburgtunnel, vom Straßenverkehr umtost.

 

Schutzlos ist sie den Blicken der Auto- und Motorradfahrer ausgeliefert. Der Gedanke an ungeschützten Verkehr könnte aufkommen. Der Begriff „Safer Stuttgart“ jedenfalls passt schon lange nicht mehr zu dieser Stadt. Wer mit seinem individuellen Verkehrsmittel unterwegs ist, muss sich höllisch konzentrieren, um Verzweigungen mitten auf einer Bundesstraße zu treffen, um im Schilder-Baustellen-Labyrinth die richtige Durchfahrt zu finden.

Und dann das!

Eine Nackte in weißen Stiefeln!

Zwischen den Schenkeln der Fernsehturm

Alles war in wenigen Minuten beendet. Aufs Podest steigen, ausziehen, Foto machen und weg! „Wir haben keine Unfälle verursacht“, versichert Justyna Koeke. Aber Zusammenstöße beim Thema Städtebau von neuem und alten Denken sind gewollt.

Ironie soll Streitverhärtungen aufbrechen und für Entkrampungen sorgen.

Aus den Performances von sieben Studentinnen der Kunstakademie Stuttgart, die im vergangenen Sommer über diverse Baustellen mit nackten Brüsten und Hinterteilen hergefallen sind, ist der Wandkalender „Stuttgart under construction – Stuttgarts schöne Baustellen“ (limitierte Auflage: nur 200 Exemplare) geworden. Am Freitagabend feiert das siebenköpfige Projektteam mit Gästen die Neuerscheinung mit provozierenden Motiven im Werkstatthaus. Auf dem Titel ist der Fernsehturm zwischen den Schenkeln eines Models platziert.

Stadtbild ist von nervösen Bürgern geprägt

Wer dies für geschmacklos hält, muss nicht gleich ein Spießer sein. Die vielen Baustellen der Stadt – und es wird nicht nur für Stuttgart 21 gebaut, es gibt noch viel mehr Prestige-Architektur – lassen kaum Entspannung zu. Die Menschen sind genervt, reagieren gereizt, haben die Nase voll von Dauerstau und Feinstaub.

Von der Leichtathletik-WM 1993 über die Fußball-WM 2006 und weit darüber hinaus erklang viel Lob: Stuttgart sei aus dem Dornröschenschlaf erwacht, vereine Feierlaune mit südländischem Temparament. Und jetzt wird dieses neu-schön-schwäbische Lebensgefühl ausgebremst. „Das Stadtbild ist von Chaos, Stau und nervösen Bürgern geprägt“, sagt Justyna Koeke. Über Behinderungen durch die vielen Baustellen könne man sich ärgern oder „als Anlass zum humorvollen Aktionismus nehmen“.

Grafiker hat nur den Himmel verändert

Studenten fanden sich nicht, die sich im öffentlichen Raum ausziehen wollten – diesen Mut hatten nur Frauen, Doch ein Mann war’s, der die Fotos nachbearbeitet hat. An den Körpern, die nicht durchgängig dem gänigen Schönheitsideal entsprechen, hat Grafiker Kleon Medugorac nichts verändert – dafür am Himmel. Mit seinem Wolkentunning will er die Betrachter „in Zukunftsträume“ versetzen. Nach grauen Jahren könnten bunte in Stuttgart folgen.

Hoffentlich erkennen wir die Stadt noch, wenn in ferner Zukunft der letzte Bauzaun fällt – wie bei einem Strip die letzte Hülle.

Ein Uwe und 70 Tänzerinnen

Aber ja, es gibt sie noch, die schönen Aussichten auf baustellenfreien Zonen im Kessel! Einer der schönsten Orte bei Nacht ist der erste Stock des geschichtsträchtigen Cafés Königsbau. Durch die großen Fenster sieht man auf das illuminierte Neue Schloss und den Hügel dahinter. In der Weihachtszeit funkelt direkt davor ein üppig gemückter Tannenbaum. An der Weihnachtskullisse allein liegt es nicht, dass donnerstags tanzwütige Massen im Alter von 40 oder 50 plus strömen. DJ-Legende Uwe Sontheimer, der in den Clubs Boa, Oz und im Perkins Park auflegte, als der Kanzler Kohl hieß, versammelt eine scheinbar alterslose Disco-Generation um sich. Ein Uwe und 70 Tänzerinnen! Mit Soul, Disco und Funk erzeugt er das Lebensgefühl von früher, das man erhalten kann. Warum sie ihren Mann nicht mitgebracht hat, wird eine Besucherin gefragt. Auf den „Mädelsabend“ verweist sie: „Es soll doch ein schöner Abend werden.“

Die Staus sorgen für Ärger – aber den Spaß können sie Stuttgart nicht nehmen.