Wo sich ein sozialer Brennpunkt befand, gehen heute schicke Menschen aus. Im Caleido an der Tübinger Straße sind die Lokale bald zu viert. Das Quartier bei der Paulinenbrücke blüht auf. Radfahrer haben Vorfahrt, und Wohnsitzlose werden ausgebremst. Im Mikôto haben Stadt-Vips die neue Zeit gefeiert.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - An Weihnachten beschenkte er sich selbst. Michael Kanz, der mit Bruder Sven Kanz anziehend auf Millionäre aus aller Welt wirkt, denen er in Burladingen auf der Schwäbischen Alb Luxusautos verkauft, hat sich einen nagelneuen, weißen Mercedes GTS AMG gegönnt – mit Winterreifen, die so viel kosten, wie andere für ein Auto ausgeben. Die hat der 30-jährige Fernsehdoku-Protagonist gebraucht, um aus dem verschneiten, meist heimeligen Biosphärengebiet in die Großstadt zu kommen. Einmal die Woche hat Deutschlands bekanntester Luxusautohändler in Stuttgart zu tun, weil sich hier Geld und Kunden befinden. An diesem Abend aber steuert er mit seiner Freundin keinen Verkaufstermin an. Sein Navi führt ihn in die Tübinger Straße, die nicht mehr durchfahrbar ist, seit sie vor einem halben Jahr von der Stadt zur Fahrradstraße erklärt wurde.

 

Oft wird er mit Harald Glööckler verwechselt

Kanz, der oft mit Harald Glööckler verwechselt wird, hat Glück. Für seinen tiefer, aber lauter fahrenden Mercedes findet er einen Parkplatz direkt vor dem japanischen Restaurant Mikôto – wenige Meter vom Straßenzug unter der Paulinenbrücke entfernt, dem man einst die unschöne Bezeichnung „Schmuddelecke“ gab.

Seit dort die Tankstelle abgerissen ist, die Polizei häufig kontrolliert und seit vor allem Besitzer von Luxusautos wie der junge Mann von der Alb auftauchen, sind die „Schmuddelmenschen“ weitergezogen. Denn was die bisher drei Restaurants im Caleido (demnächst kommt ein Eiscafé dazu) servieren, ist alles andere als ein Schmuddelbankett. Die Stadt hat aufgeräumt. Ein „Schandfleck“ hat sich „herausgeputzt“. Von der St. Maria Kirche aus gesehen ist links das italienische Restaurant Perbacco, rechts der Burgergrill Hans im Glück, der McDonalds das Fürchten lehrt. Dazwischen befindet sich das japanische Restaurant Mikôto, wo so manch ein Fisch seinen Kopf lässt. Die drei Betreiber, die vor drei Jahren in dem Geschäftskomplex Caleido gestartet sind, der noch weniger vom Österreichischen Platz erkennen lässt als früher, ziehen eine äußerst positive Bilanz nach den ersten drei Wintern. Vor allem abends brummt es hier. Und wenn ein 37 Kilo schwerer Thunfisch zerlegt wird, wie beim Vip-Fest im Mikôto geschehen, bleibt von dem nicht viel übrig. Nein, nicht aus dem nahen Feuersee stammt der Raubfisch, sondern von den Malediven und hat einen eisgekühlten Langstreckenflug hinter sich.

VfB-Spieler Daniel Ginczek liebt Sushi

Ihren Regenschirm mit dem Papageienkopf hat sie nicht dabei und auch nichts von „Supercalifragilisticexplialigetisch“ gesagt. Elisabeth Hübert, die erste Mary Poppins im gleichnamigen Musical, ist beim Feiern auch nicht so schnippisch wie als Kindermädchen auf der Bühne. Beim Japaner applaudiert sie ihrem Kollegen Trevor Jackson zu, der unter anderem Songs aus „Rocky“ singt – aus jener Show, deren Teil er mit Begeisterung war und die sich gerade aus Stuttgart verabschiedet hat, um den Vampiren Platz zu machen. Was plant er, da das Boxer-Musical vorbei ist? In die Staaten wird Trevor fliegen, aber nicht, wie er betont, um beim neuen Präsidenten zu singen. „Da singt keiner“, sagt er und freut sich, dass alle großen Kollegen abgesagt haben. Nein, er will seine Familie besuchen.

Unter den Gästen im Mikôto sind die VfB-Spieler Daniel Ginczek und Matthias Zimmermann, der Partysänger Almklausi, Musicaldarstellerin Melanie Ortner-Stassen, PR-Lady Sandra Vogelmann, Modedesigner Tobias Siewert und SWR-3-Moderator Ben Streubel, der häufig hier am frühen Abend vorbeischaut, ehe er zu seiner Nachtsendung nach Baden-Baden fährt.

Bei Thunfisch-Sashimi feiern Menschen, die in ihrem Leben viel Glück hatten und kaum unter der Brücke enden dürften. Doch keiner weiß, ob das Glück ewig hält. Nicht selbstverständlich sind Hochgefühle, ja, viele erleben das Gegenteil, den Abgrund – davon erzählt die Geschichte dieses Viertels. Daran sollten die denken, denen es besser geht. Hier hat es sich ausgeschmuddelt. Jetzt ist man unweit der Brücke schick.