Bei der Blockade von Leningrad starben eine Million Menschen, insbesondere Kinder verhungerten und erfroren. Mancher Täter blieb unbehelligt.

Berlin - In diesen Tagen vor 75 Jahren schlossen deutsche Soldaten der Heeresgruppe Nord den Blockadering um das russische Leningrad. Das Ziel lautete: Die etwa fünf Millionen Einwohner des heutigen St. Petersburg sollten verhungern. Dieser in Berlin erdachte Massenmord scheiterte zum Teil am Widerstandswillen der Eingeschlossenen, aber mehr als eine Million Menschen, insbesondere Kinder, verhungerten und erfroren während der 900 Tage andauernden Blockade.

 

Am 31. Juli 1941 hatte der für die Lebensmittelversorgung verantwortliche Staatssekretär im Berliner Landwirtschaftsministerium, Herbert Backe, noch einmal klargestellt: „Für die Versorgung der nichtlandwirtschaftlichen Bevölkerung in der Sowjetunion sind nur ganz geringe Mengen verfügbar.“ Geplant waren „die restlose Abschöpfung der landwirtschaftlichen Erzeugung der Ukraine“ für die Deutschen und der Hungertod von mindestens 30 Millionen Einwohnern der Sowjetunion. In seinen „Richtlinien für die besetzten sowjetischen Gebiete“ erklärte Hermann Göring: „Für die Großstädte (Moskau, Leningrad, Kiew) kann einstweilen überhaupt nichts getan werden. Die sich daraus ergebenden Folgen sind hart, aber unvermeidlich.“ Das Motiv für das Hungermorden hatte Göring in einen Befehl gegossen: „Unter gar keinen Umständen können in der Heimat die Rationen irgendwie gekürzt werden, weil die Stimmung der Heimat im Krieg ein ganz wesentlicher Faktor der Reichsverteidigung ist. Sind aufgrund der momentanen Ernährungslage irgendwelche Einsparungen notwendig, so hat dies ausnahmslos bei den von uns besiegten Nationen zu geschehen.“ Ich erinnere mich noch gut an die Worte meiner 1923 geborenen Mutter: „Im Krieg haben wir nicht gehungert, erst danach wollte man uns verhungern lassen.“ So fühlten Millionen von Kriegsgewinnlerinnen, die auf Kosten der mit Vorsatz Ermordeten satt und bei Laune gehalten worden waren.

Ein Schreibtischtäter macht einfach weiter

Im Oberkommando der Wehrmacht war der Ernährungswissenschaftler Professor Wilhelm Ziegelmayer (1898-1951) für die Hungerpolitik zuständig. In den 1920er-Jahren als Reformpädagoge auf der Berliner Schulfarm Insel Scharfenberg im Tegeler See tätig, schrieb er am 10. September 1941 in sein Tagebuch: „Wir werden uns nicht mit Forderungen nach einer Kapitulation Leningrads belasten. Es muss durch eine wissenschaftlich begründete Methode vernichtet werden.“

Er berechnete, dass die Bevölkerung Leningrads keinesfalls überleben könne und es daher unnötig sei, das Leben deutscher Soldaten aufs Spiel zu setzen. Ausgerechnet dieser Schreibtischmörder wurde im Herbst 1945 der oberste Ernährungsfachmann in der Sowjetischen Besatzungszone und 1947 Direktor des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke. Unter einem leicht abgewandelten Titel veröffentlichte er sein 1936 erschienenes Buch „Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung“ abermals (Leipzig, 1947) – allerdings gekürzt um den 1941 eingefügten „Ausblick auf die Großraumwirtschaft“. In freundschaftlichem Kontakt mit russischen Kollegen wollte Ziegelmayer jetzt wissen, warum in Leningrad die Mehrzahl der Einwohner trotz allem überlebt hatte: „Ich bin schließlich ein alter Ernährungswissenschaftler. Mir ist rätselhaft, was für ein Wunder dort bei Ihnen geschehen ist.“