Angela Merkels Grundvertrauen in einige Regierungen der Europäischen Union hat sich bisher noch nicht ausgezahlt, meint unser Kolumnist Götz Aly.

Berlin - In Warschau und Budapest stellen Rüpelnationalisten die Regierungen. Das Volkstumsgetue in der Ukraine ist nicht besser als das jener „echten Russen“, denen es spielend gelingt, sämtliche Zaren, Stalin und Putin als logisch aufeinanderfolgende Heroen einer großartigen Nationalgeschichte zu verherrlichen. Im Westen trachtet das in Madrid hochverschuldete Katalonien danach, „das spanische Joch“ abzuschütteln und einen eigenen Staat zu gründen. In der Schweiz, in Dänemark, Norwegen, Frankreich und Österreich gewinnen Rechtsnationalisten an Gefolgschaft. Zahlreich sitzen ihre Funktionäre in den Parlamenten, hier und da in Regierungen. In den USA erfreut sich das nationalimperialistische Showtalent Donald Trump überschwänglichen Beifalls. Verfällt die nördliche Halbkugel zwischen Moskau und New York dem neonationalistischen Wahnsinn? Droht ein Rückfall in die 1930er Jahre?

 

Merkel glaubt, die EU werde sich zusammenraufen

Äußerlich erträgt die Bundeskanzlerin die Lage gelassen. Einer ihrer Vorzüge besteht darin, nicht vom Wünschenswerten zu schwadronieren, sondern Realitäten anzuerkennen, in unübersichtlichen Situationen behutsam und, falls notwendig, entschlossen zu handeln (Atomausstieg, Entlassung von Ministern, Wir-schaffen-das). In meinen Augen reagierte sie auf den Ansturm der Flüchtlinge human und vernünftig, aber an einem damit verbundenen Punkt irrte sie sich gründlich: Sie glaubte tatsächlich, die EU werde sich letztlich zusammenraufen und auch in der Flüchtlingskrise als Solidargemeinschaft erweisen, Kompromisse finden.

Aus diesem Grundvertrauen hatte sie noch einmal den Krediten an Griechenland zugestimmt, die Regierung Renzi in Rom mit demonstrativem Wohlwollen begleitet, das von der Europäischen Zentralbank ermöglichte, jahrelang verheimlichte Gelddrucken von insgesamt 510 Milliarden Euro durchgehen lassen, das hauptsächlich von Frankreich und Italien betrieben wurde. Jetzt – in der Flüchtlingskrise – musste Angela Merkel erleben, dass nicht wenige Mitglieder die EU als Subventionsagentur ansehen, die Freizügigkeit genießen, Gelder abgreifen, aber Gegenleistungen nicht erbringen, weil das die Souveränität ihrer Staaten verletze.

Wir müssen die Idee von Europa verteidigen

Die Folgen dieses Missverhaltens werden in diesem Jahr zu besichtigen sein. Hektische Reaktionen führen ins Nichts. Die Geldströme innerhalb der EU können nur sehr langsam umgelenkt werden. Immerhin schafft der britische Eigensinn einen gewissen Druck, die Kriterien zu ändern, nach denen in Europa Milliardenbeträge umverteilt werden. Weniger könnte mehr sein. Das Hauptproblem besteht nämlich darin, dass rechts- wie linksnationalistische Parteien oder Regierungen ihre (hin und her fluktuierenden) Wähler nicht allein mit den völkischen Reinheitsgeboten ködern, sondern vor allem mit sozialen Versprechungen. Letztere erhöhen die Staatsschulden, verhindern unangenehme Sozial- und Wirtschaftsreformen und verleiten die noch amtierenden Regierungen der Mitte zu spendablem Opportunismus. Die heutigen Regularien der EU und der Eurozone mindern Selbstverantwortung und bewirken wirtschaftliche Stagnation. Sie befeuern den egoistischen Ekelnationalismus, anstatt ihn zu löschen, und gefährden so die unbedingt zu verteidigende Idee vom vereinigten Europa.