In der Bundeshauptstadt Berlin ist der Rechtsstaat teilweise ausgesetzt. Das darf nicht toleriert werden, meint unser Autor Götz Aly.

Berlin - Unsere Politiker versuchen zum allergrößten Teil, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Das gelingt ihnen nicht immer (perfekt), doch dürfen sie deshalb weder als „Hampelmänner“, „Landesverräter“ oder – aus entgegengesetzter Richtung – als „rechtspopulistische Hetzer“ diffamiert werden. Diese Regel sollte für Leserbriefschreiber, Blogger und auch für den Verkehr von Politikern untereinander gelten.

 

Nehmen wir als Beispiel die Lage im Berliner Tiergarten. Der zuständige Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), ruft seit Wochen um Hilfe, um Säufern, Strichjungen aus dem Flüchtlingsmilieu und aggressiven wohnungslosen Osteuropäern, darunter war ein Mörder, Einhalt zu gebieten. Die Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) duckt sich weg; Polizeisenator Andreas Geisel (SPD) verweist auf Breitenbach und meint, „soziale Probleme kann man nicht ausweisen“. Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister, schweigt. Nicht so dessen Parteifreund Julian Zado, stellvertretender Kreisvorsitzender der SPD in Berlin-Mitte. Er denunziert Dassels Alarmrufe als „populistische Töne, die eher rassistische Ressentiments am rechten Rand schüren“. Ähnlich reden andere Linke und Grüne – jedoch nicht alle.

Zum Zusammenleben gehört, dass Regeln beachtet werden

Ich weiß nicht, wie viele Frauen Zado kennt, die in der Dämmerung, geschweige denn nachts, durch den Tiergarten radeln möchten. Ich weiß auch nicht, ob Zado zu den selten gewordenen Berlinern gehört, denen Glücksgefühle entströmen, wenn sie auf einer kurzen U- oder S-Bahn-Fahrt dreimal angebettelt werden. Prinzipiell gilt für das Zusammenleben vieler Menschen, dass Regeln beachtet werden müssen – allerdings mit der wichtigen humanen Einschränkung, dass auch die eine oder andere weniger geordnete Ecke zugelassen werden soll.

In Berlin tendieren besagte Ecken jedoch zur Entgrenzung. Deshalb verdient Bezirksbürgermeister von Dassel Unterstützung. (Zu den Folgen des Laisser-faire gegenüber Drogenabhängigen zählt eben auch die Beschaffungskriminalität; so führt der Diebstahl von Kupferkabeln der Bahnanlagen ständig zu stundenlangen Ausfällen im öffentlichen Nahverkehr.)

Die Justiz erklärt sich für überlastet

Zu Dassels engeren politischen Freunden gehört Justizsenator Dirk Behrendt (ebenfalls Grüne) gewiss nicht. Während die Vereinigung der Berliner Staatsanwälte und das Präsidium des Landgerichts mitteilen, dass sie heillos überlastet sind und „eine tat- und schuldangemessene Ahndung von Straftaten nicht mehr zu erwarten“ seien, schweigt der verantwortliche Justizsenator und gibt stattdessen folgenden Termin für den 26. Oktober im Roten Rathaus bekannt, versehen mit seinem amtlichen Briefkopf: „Auf nach Casablanca? Lebensrealitäten transgeschlechtlicher Menschen zwischen 1945 und 1980.“

Nichts gegen transgeschlechtliche Menschen, aber unsere regierenden Politiker sind nicht in erster Linie für das Tätscheln und Hätscheln ihrer jeweiligen Lieblingsgrüppchen zuständig, sondern für das vernünftige, verträgliche und tolerante Funktionieren des Ganzen. Sie alle haben in Berlin diesen Amtseid abgelegt: „Ich schwöre, mein Amt gerecht und unparteiisch (…) zu führen und meine ganze Kraft dem Wohle des Volkes zu widmen.“

Wenn unsere Richter sagen, „der Rechtsstaat ist in Berlin ausgesetzt“, dann ist das wesentlich wichtiger als eine gruppenidentitäre Nebensächlichkeit.