Nicht geschraubte Namensgebung und Wortklauberei, sondern der selbstverständliche Umgang mit Behinderten hilft den Betroffenen und ihren Angehörigen – weiß Götz Aly aus eigener Erfahrung.

Berlin - Die meisten werden es nicht wissen: seit 1982 ist der 3. Dezember der von den Vereinten Nationen festgelegte Gedenk- und Aktionstag für Behinderte. Mich interessiert dieses Datum, weil ich eine ziemlich schwer behinderte, bald 37-jährige Tochter habe, und bevor ich über Wünsche spreche, möchte ich mich bedanken: Die öffentlichen Leistungen in der Bundesrepublik, auch die allgemeine Rücksichtnahme, sind enorm. Sie erleichtern es den Angehörigen entscheidend, die Last zu tragen, die ein körperlich und geistig geschädigter, pflegebedürftiger Mensch fraglos mit sich bringt. Das Leben mit behinderten Menschen ist nicht einfach. Es kann zu Verzweiflung führen, zu Aggressionen oder Trübsal. Es hängt stark von äußeren Faktoren ab, ob Angehörige an den Problemen wachsen, sie gut gelaunt oder verhärmt bewältigen oder an ihnen zerbrechen.

 

Alberne Wortklauberei hat Probleme nicht gemildert

2007 wurde der Behindertentag umbenannt in Tag der Menschen mit Behinderung, eine alberne Wortklauberei. Auf Spanisch heißt Behinderter minusválido – Minderwertiger, ähnlich dem älteren Invaliden (Unwertigen). Na und? Wer fünfmal das Wort Inklusion ausruft und sich geschraubter Ausdrücke bedient („Menschen mit besonderen Bedürfnissen“), hat kein Problem gemildert. Ist das Wort „behindert“ etwa neutral? Zum Rechtsbegriff wurde es erstmals im Reichsschulpflichtgesetz von 1938, unterzeichnet von Adolf Hitler. Es regelte in Paragraf 6 die „Schulpflicht behinderter Kinder“. Man brauchte einen Oberbegriff für Krüppel, Idioten und Schwachsinnige (so sagte man seit Kaisers Zeiten), der alle geschädigten Menschen umfasste, die Soziallasten verursachen. Dasselbe Gesetz ersetzte die humane Bezeichnung Hilfsschule durch Sonderschule. Obwohl es von dort nicht mehr weit zur Sonderbehandlung in Gaskammern war, hielt sich der Terminus noch lange.

Behinderte brauchen warmherzige Menschen

Eine andere Wortschöpfung jener Jahre blieb bis heute beliebt. Früher hatten wir für chronisch psychisch Kranke, Krüppel und Geistesschwache Heil- und Pflegeanstalten. 1942 wurden diese in Nervenkliniken umbenannt, die Pflege getilgt und die Therapieresistenten ermordet. Auch heute können viele körperlich und geistig gebrechliche Menschen nicht geheilt werden. Sie bedürfen einer guten pflegerischen Situation, guter kompensatorischer Hilfsmittel und warmherziger Menschen – in nutzlosen Therapien kann sich Aggression ausdrücken.

Was könnte, was sollte sich in Deutschland ändern? Meine Wünsche richten sich nicht an den Staat, mehr an die Leute. Ich empfinde es als angenehm, wenn ein Bauer beim Eierkaufen an einer brandenburgischen Landstraße sagt: „Ach, so einen haben wir auch – mein Bruder, der guckt genauso schief!“ Sehr viel häufiger kann man seltsam befangene, halb neugierige, halb verschämte Blicke vom Nebentisch im Restaurant erleben, das Tuscheln mit fragenden Kindern. Das geht auch anders. Da sagt zum Beispiel ein Mädchen, während ich am Strand meine Tochter wickele, der ratlos-verdutzten kleinen Schwester: „Das ist ein Mensch, der nicht zur Toilette gehen kann.“ Nicht, dass ich ununterbrochen angesprochen werden möchte, aber etwas mehr von solcher Selbstverständlichkeit wäre schön.

Vorschau
Am kommenden Dienstag, 8. Dezember, scheibt an dieser Stelle unsere Autorin Katja Bauer.