Die Berliner Aktionskünstler vom „Zentrum für politische Schönheit“ benutzen die Leichen von Flüchtlingen für ihren Protest gegen die EU-Asylpolitik. Was brauchen wir als nächstes, um aufzuhorchen?, fragt unsere Kolumnistin Katja Bauer.

Berlin - Darf man zehn tote Menschen aus der sizilianischen Erde ausgraben, durch Europa nach Berlin karren und einige zum Zweck einer Demonstration vor dem Kanzleramt aufbahren? Darf man Leichen für politischen Protest benutzen? Darf man das Leid der Hinterbliebenen auf diese Weise ausbeuten, darf man sich anmaßen, diese allerletzten Dinge als künstlerisches Happening vorzuführen – und sei der Zweck auch noch so legitim?

 

Die Berliner Aktionskünstlergruppe, die sich „Zentrum für politische Schönheit“ nennt und die es in den vergangenen Jahren mit ihrem Protest gegen die Flüchtlingspolitik der EU zu einiger Berühmtheit gebracht hat, tut genau dies nach eigenen Angaben seit Montag. Zehn Menschen, die auf der Flucht nach Europa im Mittelmeer ertranken, wurden mit Billigung der Angehörigen exhumiert. Am Dienstag soll der Leib einer Syrerin auf einem muslimischen Friedhof in Berlin – O-Ton: der Stadt „ihrer bürokratischen Mörder“ – bestattet werden. Die Mutter und ihr zweijähriges Kind seien Anfang März auf einem Schiff nach Italien unterwegs gewesen, der Körper des Kindes ist verschollen. Das Schiff kenterte im Mittelmeer. Rund 40 Flüchtlinge seien an Bord gewesen, viele seien dabei ertrunken. Dramaturgisch effektvoll will man dann die Woche über weitere – noch geheim gehaltene – Beerdigungen zelebrieren. Der radikale Protest soll am Sonntag in einer Demonstration vor dem Kanzleramt kulminieren, bei der weitere Tote aufgebahrt werden und ein temporäres Denkmal entsteht, dessen Simulation auf der Website der Aktionskünstler auffällig an das Holocaustmahnmal erinnert. Im Internet wird parallel per crowdfunding Geld für die Überführungen und Bestattungen der Leichen gesammelt, man kann T-Shirts oder Plakate bestellen und kaufen.

Eine Aktion, die Populismus verströmt

Ist das alles geschmacklos? Mein erster Reflex war ein heftiger Widerwille gegen den Populismus, den die Aktion verströmt – mitsamt der unerträglichen und grundfalschen Anlehnung an den Holocaust, mit der groupiehaften Unterstützerszene im Internet, die alles haltlos bejubelt. Weil sich hier Leute so sehr auf der richtigen Seite wähnen, dass sie sich jede Anmaßung zutrauen und in 140 Zeichen auf Twitter die ganze Welt erklären. Weil die Aktion zwar sehr ausgeklügelt wirkt und die Angehörigen der Opfer beteiligt wurden – aber niemand seriös abschätzen kann, welche Traumata der öffentliche Prozess bei Hinterbliebenen auslöst. Weil offen ist, was er ihnen damit antun wird und wo diese Geschichte für den Einzelnen endet, wenn der ganze Rummel vorüber ist. Weil das Handeln der Künstler zwar radikal ist, aber trotzdem kein winziges bisschen dazu beiträgt, dass Europa einer Lösung der Flüchtlingsfrage näher kommt.

Aber dann kam da dieser Würgereiz – beim Ansehen des Videos, das die Künstler gedreht haben: von Dutzenden Leichen, die so rumliegen. Namenlos in Plastiktüten, in Kühlkammern, in Hallen oder unter irgendeiner Erde, simultan von christlichen Pfarrern und muslimischen Imamen bestattet. Die Frau aus Syrien zum Beispiel, so sagen es die Künstler, ist so eine Tote. Niemand kannte sie, niemand bemühte sich, ihr einen Namen zu geben. Die Gruppe fand ihre Identität heraus. Ihr Mann und die anderen Kinder der Frau hätten überlebt.

Wie weit muss Protest gehen, damit er aufrührt?

„Unbekannte Nummer zwei“ wird nun an diesem Dienstag in Berlin bestattet. Die Aktivisten wollen den Toten die Würde zurückgeben, die ihnen genommen wurde. Wer kann das falsch finden? Die Aktionskünstler eskalieren ihre Proteste immer mehr. 2013 erfanden sie Flüchtlingskinder, die vom Familienministerium vermittelt werden sollten. 2014 stahlen sie die Mauerkreuze und entführten sie an die EU-Grenzen. Nun kommen die Toten. Was darf Kunst, die politisch ist und radikal? Vielleicht muss man die Frage andersherum stellen: Wie weit muss eine Provokation gehen, damit sie die nötige Aufmerksamkeit erreicht? Die Aktion „Die Toten kommen“ lenkt den Blick darauf, wie pietätlos die Europäische Union mit den Menschen umgeht, die an den tödlichen Außengrenzen sterben, weil sich das reiche Europa abschottet. Sie wirft die Frage auf, was eigentlich aus den tausenden von Leichen wird, bei denen es sich um Menschen handelt, die von anderen Menschen betrauert werden. Sie erinnert uns an das, was wir gern vergessen: dass hier unendliches Leid entsteht, weil wir in Ruhe gelassen werden wollen.

Wir sind gewöhnt an die Unerträglichkeit der Flüchtlingsfrage, ans kurze Aufregen und ans Wegsehen. „Wir machen Stress. Wir sammeln keine harmlosen Unterschriften“, sagt er „Eskalationsbeauftragte“ des Kollektivs. Hätten sich zum selben Thema dieselben paar Leute samstagmorgens mit einem empörten Transparent vors Brandenburger Tor gestellt, sie wären nicht mal bemerkt worden. Kunst ist dann explosiv, wenn sie uns und unsere Wahrnehmung vorführt. Ob man diese jüngste Aktion auf der Skala der eigenen Erregung als gelungen, grenzwertig oder geschmacklos einordnen wird, ist vielleicht nicht das Entscheidende. Es sagt dagegen viel über unser Dasein in unserer sedierten Wohlstandsrealität, dass die Mittel, derer sich die Aktionskünstler bedienen, immer schriller werden. Was brauchen wir als nächstes um aufzuhorchen?