Der VfB Stuttgart trifft am Freitag auf den 1. FC Nürnberg, wie 1959. Damals fiel das erste Phantomtor. Und doch war alles anders, wie unser Kolumnist Oskar Beck findet – weil der Schütze Rolf Geiger ein ehrlicher Fußballer war.

Stuttgart - Der VfB spielt am Freitag. Angst und bange kann einem da werden. Fußball am Freitagabend, schon der flüchtige Gedanke daran ist unerträglich für jeden Schiedsrichter oder anständigen Fan – spätestens seit dem Schwarzen Freitag vor einer Woche.

 

Aber am allerwenigsten will man an so einem Freitagabend Torjäger sein, und schon gar nicht im Herbst wie jetzt. Denn da ist es sehr früh stockdunkel im Stadion, Hunderte von künstlichen Lampen und Leuchten müssen angezündet werden – und so ein Torjäger, geblendet von der tief stehenden Flutlichtsonne, blickt irgendwann nicht mehr durch und macht die sackdoofsten Sachen.

Wie Stefan Kießling.

Unten durch ist gar kein Ausdruck für den Status, den sich der letztjährige Torschützenkönig der Bundesliga vorigen Freitag langfristig gesichert hat. Scharenweise zermartern sich die Stammtische seit seinem Skandaltor von Sinsheim die Köpfe oder schlagen sie sich sogar gegenseitig ein bei der Suche nach einer Antwort auf die kitzlige Frage: Muss der Schütze Kießling a) zum Augenarzt, b) zur Beichte oder c) an den Lügendetektor – oder geht es zu weit, ihn d) einen schäbigen Strolch zu nennen?

„Irgendwie lag der Ball im Tor“

Kießling selbst überlegt noch. Der Leverkusener Kanonier begegnet den schweren Vorwürfen ungefähr wie jener Berliner, der 1840 berühmt wurde, als er vor Gericht mit dem Satz auftrat: „Mein Name ist Haase, ich weiß von nichts.“ Hören wir in Kießlings O-Ton kurz rein: „Ich habe nach meinem Kopfball und dem Drehen des Kopfes nicht genau gesehen, ob der Ball korrekt ins Tor gegangen ist oder nicht. Irgendwie lag der Ball im Tor.“ Das klingt verdächtig nach einer durch das jähe Drehen des Kopfes verursachten Netzhautablösung.

Denn was die Bilder des Fernsehens ziemlich unbestechlich zeigen, ist Folgendes: Kießling schaute seinem Kopfball zunächst scharf hinterher, drehte dann enttäuscht ab, schlug wegen der vertanen Chance die Hände vors Gesicht, und talentierte Lippenleser könnten vermutlich sogar beweisen, dass er dabei ein Wort vor sich hinfluchte, das mit „Sch“ anfängt und mit „eiße“ aufhört. Doch plötzlich stürzten sich ein paar Mitspieler, die sich bis dahin in Gestik und Mimik auch eher frustriert gaben, mittels wilder Umarmung auf den Schützen und schauten aus, als würden sie sagen: „Kießling, lass uns sicherheitshalber jubeln, die blinde Pfeife hat ein Tor gesehen.“ Und Kießling hob, zunächst noch zaghaft, die Arme.


Vor dem Wiederanstoß hat er dann seine letzte Chance verpasst. „War das Tor nicht korrekt?“, forschte der Schiedsrichter, und Kießling eierte um den heißen Brei herum: „Ich hab gar nicht richtig mitgekriegt, wie der Ball ins Tor ging.“ Da gab der Schiedsrichter auf, Kießling bekam sein Tor des Tages, ist aber nun seither der Tor des Jahres. „In einem solchen Moment“, sagt Markus Gisdol, der betrogene Hoffenheimer Trainer, „hat man als Spieler eine Jahrhundertchance.“ Man muss sie nur nutzen.

Wie das geht?

Kein Mensch weiß es mehr, so versaut sind wir in diesen gierigen Zeiten. Aber dann hat sich gestern wie aus dem Nichts unser treuer Leser Dr. Thomas Miller aus Feucht bei Nürnberg gemeldet, der vom Jahrgang 1954 ist, also dem besten des deutschen Fußballs – und er hat uns Auszüge aus zwei glaubhaften Fußballzeitschriften vom 23. November 1959 zukommen lassen. Tags zuvor hatte der 1. FC Nürnberg in der Oberliga Süd gegen den VfB Stuttgart 1:2 verloren, doch der wahre Höhepunkt war ein anderer und ist im damaligen „Sport-Magazin“ so beschrieben: „Der VfB-Sieg wurde noch überstrahlt von einer beispielhaften sportlichen Geste unseres Nationalspielers Rolf Geiger.“

Auf des Messers Schneide

Sagen wir es ruhig mit dem Zungenschlag jener Zeit: Man schrieb die 38. Minute, und das Spiel stand auf des Messers Schneide, denn der VfB führte nur 1:0 – in jenem Moment ballerte der schwäbische Jungstar Geiger den Ball ans Außennetz, wo sich das runde Ding irgendwie ganz blöd und unübersichtlich in den Maschen verhedderte, und der Schiedsrichter, ein offenbar stark sehbehinderter Frankfurter namens Reichert, entschied auf Tor. „Der Ball lag schon für den Anstoß bereit“, entnehmen wir dem „Kicker“ – da bat der Geiger den Reichert noch um eine kurze Unterredung unter Männern.

Und mit Abstoß ging das Spiel dann weiter.

„Bravo Geiger!“ heißt in der alten Schrift von damals dick und fett die Überschrift, und im Text wird erzählt, wie reserviert ein paar VfB-Mitspieler im ersten Schock reagierten, lesen wir uns kurz hinein: „Waldner, Strohmaier und einige andere waren zunächst nicht so erbaut von der sportlichen Einstellung ihres Kameraden.“ Immerhin ging es um 100 Mark Siegprämie, und für 100 Mark konnte man sich damals noch zwei Wochen Acapulco kaufen, inklusive Flug, Vollpension und Wasserskikurs.

„Ich schieß schon noch ein Tor“, soll Geiger, vom schlechten Gewissen geplagt, den Mitspielern bei Halbzeit geschworen haben, und Schorsch Wurzer, der legendäre VfB-Meistertrainer, sagte zum „Sport-Magazin“ wörtlich: „Jetzt müssten wir eigentlich für dieses Fairplay das Spiel gewinnen.“ So kam es: Geiger schoss das 2:0. Endstand 2:1. Alles also fast wie bei Hoffenheim gegen Leverkusen.

Nur doppelt so ehrlich.

Rolf Geiger ist für seine gute Tat vom Fußballgott nicht vergessen worden. Wenig später stieg er auf zum gut verdienenden Italienlegionär, pünktlich zur Bundesliga kehrte er zum VfB zurück, war danach erfolgreich als Bauunternehmer, und vor ein paar Tagen wurde er 79, in rüstiger Verfassung. Doch das Allerwichtigste war der Ritterschlag vom Schiedsrichter Reichert damals in Nürnberg. „Als der aus der Kabine kam“, hat das „Sport-Magazin“ geschrieben, „strich er Rolf über seinen Stiftenkopf und sagte: ,Bist ein braver Bua!’“

Was ist Kießling? Auf jeden Fall kein Geiger, er hat es vergeigt. Und vielen wird es an Freitagabenden jetzt ganz mulmig. Nur morgen nicht. Da kann nichts passieren. Der VfB spielt gegen Nürnberg, und bestenfalls sitzt auf der Tribüne auch noch das gute Omen persönlich: Rolf Geiger.