Der VfB heißt jetzt „Verein für Blabla“ – und fragt sich: Warum kann Hansi Müller das Wasser nicht halten?

Stuttgart - Im Lexikon der Anatomie findet man unter „S“ die ekelhafte Warnung: Mit den Schließmuskeln des Mundes ist es wie mit denen des Afters – wenn sie erschlaffen, geht der Schuss in die Hose.

 

Wie muss man sich das als Laie vorstellen?

Spontan fällt uns Franz Beckenbauer ein, der die Sorgen von Amnesty International wegen der menschenfeindlichen Zustände in Katar so entkräftete: „Ich habe dort noch nicht einen einzigen Sklaven gesehen, die laufen da frei rum.“ Auch die Südafrikaner hat der Kaiser einmal beruhigt – als sie mit ihrer Bewerbung um die WM 2006 scheiterten, schoss er ihnen aus der Hüfte geschwind den fast philosophischen Trost um die Ohren: „Die können’s auch vier Jahre später noch machen, vielleicht haben’s bis dahin mehr geteerte Straßen.“

Ein mitteilungsbedürftiger Stargast

Man denkt in solchen Momenten gerne an Niki Lauda. Die Wiener sind zwar aufgrund ihres vorlauten Schmähs für jede Form des Schweigens total ungeeignet, aber ihr früherer Formel-1-Weltmeister hat die Flammenhölle am Nürburgring überlebt und sagt seither als TV-Experte: „Ich verbrenne mir nicht den Mund, ich habe mir schon die Ohren verbrannt.“

Die Österreicher müssen die Redseligen deshalb inzwischen importieren, zum Beispiel Hansi Müller. Von unserem VfB-Ex-Europameister hatte man lange nichts Griffiges mehr gehört, aber umso mitteilungsbedürftiger war er zuletzt als Stargast bei Servus TV, dem Sender des Red-Bull-Milliardärs Didi Mateschitz. Mit einem Schlenzer des linken Außenrists, scharf am Kopf vorbei, hat er dort sein Schweigegelübde als VfB-Aufsichtsrat gebrochen und vor sich hingeplappert, dass man in Cannstatt aufgrund der kritischen Lage und „aus Respekt gegenüber Huub Stevens“ die Trainernachfolgefrage im Moment thematisch ganz klein hält – aber die großen Worte, die ihm auf der Zunge lagen, hat er dort dann doch nicht unausgesprochen liegen lassen, sondern gesagt: Der Neue ist Alexander Zorniger.

Vor allem die Ex-Stars gehen der Kamera auf den Leim

Warum tun Stargäste so etwas? Warum lassen sie sich einen Gedanken durch den Mund und erst dann durch den Kopf gehen? Hatte Hansi ein paar aufputschende Brausedosen zuviel intus – oder dachte er, sein vereinsschädigendes Geschwätz würde am Grenzübergang zwischen Salzburg und Freilassing abgefangen und an der Einreise nach Deutschland gehindert? Alles falsch. Schuld ist nicht er.

Schuld sind diese tückischen TV-Kameras.

Vor allem die Ex-Stars gehen diesen Kameras gerne auf den Leim. Eine strahlende Karriere lang standen sie im Scheinwerferlicht, und am Ende wartet oft dieses jähe Loch, diese bühnenlose Dunkelhaft bei Wasser und Brot. Die einen suchen dann das Licht aus dem Notaggregat des RTL-„Dschungelcamps“, und die mit mehr Glück werden Aufsichtsrat und eines Tages angerufen von Servus TV: Hansi, wir würden Dich gerne einladen, Du hast doch noch was zu sagen – oder?

Am Ende kapitulieren selbst die Tapfersten

Aber hallo! Und Hansi geht hin, und es ist wieder wie früher, Bühne, Kameras, Blitzlichtgewitter, Beifall. Fußballstars sind wie Schauspieler: Wenn daheim der Regen gegen das Fenster klatscht, verbeugen sie sich, der Applaus ist ihre Luft zum Atmen. Aber es gibt ihn nicht umsonst, nicht fürs Klappehalten, die Leisetreter sind nicht die großen Knüller auf der Medienbühne des Zirkusfußballs. Also gibt der Aufsichtsrat Müller sein Herrschaftswissen preis, führt den VfB vor als Verein für Blabla, oder sagen wir es mit dem Galgenhumor von Wilhelm Busch: „Der eine fährt Mist, der andre spazieren, das kann ja zu nichts Gutem führen.“ Jedenfalls sind jetzt viele gespannt, ob dieser bloßgestellte Club wenigstens auf zweitklassige Wortmeldungen noch erstklassig reagiert und seine Plaudertasche von der Sonnenseite eines Rücktritts überzeugt, mit der Aussicht womöglich auf eine Zukunft als Redner beim Totengedenktag des VfB.

Diese verfluchten Kameras. Sie können einem den Kopf verdrehen. Der Ex-Weltmeister Icke Hässler hat einst gejammert: „Wenn du deine Birne jeden Tag in der Zeitung siehst, wirst du irgendwann total Banane“ – aber eine Kamera ist noch schlimmer. Sie ist ein Luder, sie lacht dich an, sie zwinkert dir zu, „erzähl mir was Hübsches“, säuselt sie – und mit weichen Knien kapitulieren am Ende sogar die Tapfersten und enthüllen Hanebüchenes. Kopfschüttelnd bedauern wir heute noch Hansi Flick, der als deutscher Co-Trainer bei der EM 2012 so vollmundig mit der Strategie „Stahlhelm auf und groß machen!“ verblüffte, dass unsere polnischen Gastgeber dachten, das DFB-Team wolle nicht mit dem Bus, sondern in einem Kübelwagen aus alten Wehrmachtsbeständen zum Stadion fahren.

Ein unmoralisches Angebot von Diego

Selbst Profis, die mit dem Mikrofon per Du sind, reden sich in zügellosen Momenten den Senf von der Seele. „Seit 2008 wird zurückgeritten!“ entfuhr es dem ARD-Reporter Carsten Sostmeier nach dem Olympiasieg der Vielseitigkeitsreiter gegen die Franzosen, die Briten und die Amerikaner – nachträglich gewann er doch noch den Krieg, den Hitler einst mit den Worten eröffnete: „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen.“

Dem ärmsten Hund steht per Gesetz ein Maulkorb zu, der ihn kontrolliert kläffen lässt – aber die Stars des Sports lässt man ungeschützt vor jede Kamera und schickt sie in Teufels Küche, sogar die ehemals Größten. Im Siegesrausch macht Diego Maradona den ungeliebten Journalisten dann gerne mal ein unmoralisches Angebot („Ihr könnt mir jetzt einen bla...“), und in puncto Pelé behauptet der andere brasilianische Altstar Romario: „Wenn er schweigt, ist er ein Poet.“

Aber Pelé schweigt nicht. Auch er wird älter, auch er kann das Wasser nicht immer halten. Hier schließt sich der Kreis – und wir sind wieder beim Anatomie-Lexikon, Buchstabe „S“.