Etwas unbegreiflich Übersteigertes hat die Begeisterung der SPD für Martin Schulz. Warum die Partei ihn so feiert? Weil sie schon immer eine Neigung zu schwachen Männern hatte – selbst wenn man mit denen nicht regieren kann, meint unsere Kolumnistin.

Stuttgart - Liebe ehrwürdige Tante SPD, was ist nur mit Dir geschehen? Bist Du in einen Jungbrunnen gestiegen? Hast Du Dich wie einstmals Faust und ohne Furcht vor mephistophelischen Konsequenzen in Deine Jugendzeiten zurückverwandelt? Weshalb sonst ließest Du Deinen altgedienten Freier, den Siggi, klaglos von dannen ziehen? Ja schlimmer: gabst ihm recht eigentlich einen Tritt und schicktest noch einen Beifall hinterher. Dabei hatte man sich doch endlich an ihn gewöhnt, den bisweilen Wankelmütigen. Er schien standhafter und gefestigter geworden, nachdem er nun schon jahrelang Minister und Vizekanzler gewesen war. Da konnte sich ihn manch einer sogar als Kanzlerkandidaten oder Kanzler vorstellen. Wen denn sonst?

 

Aber dann kam Martin, der im Barte, von Siggi befördert und auf den Schild gehoben, Martin, der Kämpfer für mehr soziale Gerechtigkeit, obwohl es davon doch gar nicht so wenig gibt in unserer schönen Republik. Und Du, ehrwürdige, ergraute Tante? Was tust Du? Du siehst Dich urplötzlich von fast pubertärer Leidenschaft erfasst, Du errötest, Du entbrennst, Du bist verliebt, Du begehrst. Martin, ja, er ist es, er muss es sein, Martin, ihn hast Du vernommen, aufgenommen, mitgenommen. Martin in allen Gazetten, Martin in allen Bundesländern. Hände schütteln, Kinder küssen, in der Menge baden. Die Umfragewerte steigen, neue Mitglieder stellen sich ein. Er hat die Wende gebracht, hat Dich aus dem Jammertal der Umfragen geführt, ihn musst Du einfach ans Herz drücken. Was für ein Hype. Siebenter Himmel. Diese Liebe kann keine Sünde sein.

Kein Visionär wie Willy – kein Basta-Kerl wie Gerd

Dabei hat er nichts von den Großen unter den Vorgängern; ist nicht so männerschön und frauenfaszinierend, nicht so weitblickend, so einfallsreich, so weltbedeutend wie, Willy, der Visionär.

Auch einen Basta-Kerl, wie Gerhard Schröder einer war – Gerhard der Mutige –, der seine Kanzlerschaft opferte für das wirtschaftliche Wohl der Deutschen, mag man in ihm nicht sehen. Nein, nein, nein, ein Schwergewicht ist er nicht, Dein heiliger Martin, sehr liebe und sehr alte Tante, eher scheint er mir ein Tänzer zu sein, leichtfüßig, der Dich auffordert, nachdem Du ihn angefordert hast. Er tanzt von Versammlung zu Versammlung, er redet, er lacht, er ist fröhlich. Rheinisch sozusagen. Wie sich’s in diesen wilden Tagen gebührt. Das fühlt sich gut an, für Dich, liebe Tante, ebenso für alle anderen. Fehlt nur, dass er noch wie weiland Scheel, die FDP hab ihn selig, „Hoch auf dem gelben Wagen“ singt. Dann dürfte Dein Glück vollkommen sein, und das nicht nur im Hinblick auf den Bund, sondern auch mit Wirkung auf Nordrhein-Westfalen, wo die betuliche Regierungschefin im Sinne der zu wählenden Mai-Ergebnisse unbedingt gerockt werden müsste. Helau und Alaaf.

Martin heißt er, und da ist der Name natürlich Programm. Er muss teilen, muss verteilen, muss es zumindest versprechen, muss ein richtig guter Mensch sein. Ob das am Ende reicht, ist eine andere Frage. Ein Gedanke an die frühen neunziger Jahre, liebe Tante, müsste Dich ein bisschen erzittern lassen.

Rudolf Scharping lässt grüßen

Du hast es ja längst vergessen. Niemand wagt auch, in der verbreiteten Begeisterung um direkt-demokratische Verfahren, Dich daran zu erinnern. Ich aber will es versuchen. Denn es gab ja nicht nur den Wundermann Willy und Gerhard, den Starken, es gab auch einen gewissen Rudolf Scharping. Der wurde, anno 1993, in Urwahl dem zuständigen Parteitag als sozialdemokratischer Bundesvorsitzender empfohlen, mit Aussicht auf die Kanzlerkandidatur – gegen Heidemarie Wiczorek-Zeul und Gerhard Schröder. Deine heiß geliebte und tief verehrte Basis, liebe alte Tante SPD, hat sich für den hölzernen Selbstüberschätzer aus Rheinland-Pfalz entschieden, für den schwächeren der beiden Männer. Du und Deine Basis, Ihr habt nun mal eine Neigung zum schwachen Mann, weshalb Ihr dem energischen Kanzler Schmidt das Regieren unendlich schwer bis unmöglich gemacht und einen Kanzler Schröder, so lange, wie es ging, verhindert habt. Denn Vorsicht: Diese Kerle waren Machtmenschen! Die mag die liebe ehrwürdige Tante SPD ganz und gar nicht. Also her an Mutters Brust mit dem schwachen Mann, auch wenn man mit solchen Leuten nicht regieren kann.

So ist nicht ausgeschlossen, liebe Tante, dass Deine überbordende Passion für den heiligen Martin letztendlich nicht bringt, was Du Dir erhoffst. Denn auch damals, als Rudolf Scharping zum Erlöser geweiht wurde, herrschte eitel Freude und Begeisterung. Du berauschtest Dich an Dir selbst ob dieser Auswahl; auch damals hatte das bereits etwas unbegreiflich Übersteigertes, und es hielt nicht vor. Beim Mannheimer Parteitag von 1995 genügte eine Rede Oskar Lafontaines, um den vermeintlichen Erretter Scharping vom Sockel zu reißen. Den Rest besorgte der beschädigte Held, der unter Schröder noch ein Weilchen Verteidigungsminister sein durfte, später beim Baden und Planschen mit der Gräfin Pilati, geborene Paul, selbst. Seither trägt er den stolzen Titel eines Präsidenten der Deutschen Radfahrer. Bingo. So weit wirst Du es mit Deinem neuen Lover nicht kommen lassen. Eine Konkurrenz starker Männer ist eh nicht in Sicht. Aber Frauen,

liebe, gute, alte Tante SPD, Frauen mit

Appetit auf Macht, die gibt es reichlich.

In diesem Sinne . . .