Unkenrufe gab es reichlich. Aber trotzdem blühen Landschaften an der Ostsee – meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Heringsdorf - Wir kamen zum ersten Mal nach Usedom und sahen das Elend, sahen den Verfall, sahen die graue Trostlosigkeit des Ostens; wir sahen, was 40 Jahre Sozialismus angerichtet hatten: wacklige, unbegehbare Bürgersteige, abgeblätterte Fassaden, Fensterrahmen, an denen nur noch Fetzen von Farbe hingen, Veranden, die nicht mehr bewohnbar waren, Jugendstilarchitektur, deren einstigen Glanz man allenfalls noch ahnen konnte. Was für ein Jammer. Nur das Meer war noch da, und die Menschen verbrachten ihre Ferien nach wie vor in seiner Nähe. Sie hausten nicht in den verfallenden Villen, sondern in Zelten, im Wald, und spazierten nackt am Strand entlang. Diese Freiheit immerhin hatten sie in der Diktatur gehabt und pflegten sie auch im Sommer 1990 noch weiter.

 

Aus reiner Neugier waren wir hierher gereist und erwarteten nichts außer interessanten Eindrücken und viel Ruhe. Doch gerade Letztere gab es in diesem Sommer nicht, als der eine Staat noch nicht ganz verschwunden und der andere noch nicht ganz da war. Deshalb hinderte niemand die Rowdies, die von früh bis spät auf ihren Wassermotorrädern an der Küste entlangdonnerten. Weiß Gott, wo die Kerle herkamen. Wahrscheinlich aus dem Westen. Auch frische Luft war rar, ausgerechnet am Meer, weil am Abend aus allen Kaminen der entsetzliche Gestank der gelblichen Braunkohleabgase quoll und sich frech über die herrliche Gegend ausbreitete.

Knapp an einer Depression vorbei

Das Essen war gut, jedoch einfach und eintönig. Heute Spiegeleier mit Bratkartoffeln und morgen Hähnchen mit Sättigungsbeilage, ein bisschen Fisch und Salzkartoffeln, dann wieder Spiegeleier und so weiter. Unser Hotel hatte einst Stasibonzen und anderen Hochgestellten der DDR-Diktatur als Urlaubsdomizil gedient. Folglich lagen Häkeldecken auf den Nachttischen. In einem Glasschrank standen Kristallgläser. In den braunen Sesseln saß man nicht schlecht. Alles insgesamt eine Art Luxus, die einen – wenn man zu den kleinbürgerlichen Geschmacklosigkeiten auch den großen Unrechtsrest bedachte – knapp an einer Depression vorbeischrammen ließ.

Dass dies alles nun nicht mehr DDR sein sollte, sahen damals etliche Medien – der meinungsführende „Spiegel“ vorweg – zunächst als eine Katastrophe an. Die kritischen Kommentare überschlugen sich geradezu vor kassandrischem Eifer. Der Untergang der Region schien mit der Währungsunion am 1. Juli 1990 vorprogrammiert. Der Westen nahm den Ossis etwas weg, er verfälschte ihr gewohntes Leben, sie würden nicht mal den bescheidenen Urlaub bezahlen können. Katastrophe, wohin der Journalistenmensch an Usedoms Küste auch schaute.

Dann wurde gebaut, renoviert und gestrichen

Obwohl ich selbst zur schreibenden Zunft gehöre, mochte ich den Pessimismus der Skandalkollegenschaft von Anfang an nicht teilen. Unser zweiter Besuch und ebenso der dritte, wenige Jahre später, zeigte denn auch, wohin die Entwicklung ging. Es wurde gebaut, es wurde renoviert, es wurde gestrichen. Und langsam, sehr langsam verwandelte sich das sozialistische Aschenputtel wieder in die Prinzessin, die es einmal war. Es kam Farbe in die alten Kaiserbäder Heringsdorf, Ahlbeck und Bansin, und jetzt, da alles noch auf eine gewisse Patina wartet, strahlen diese Orte etwas Jungfräuliches aus, so rosa, hellgrün, zartgelb und natürlich weiß, wie die Fassaden und ihre widererstandenen Veranden angestrichen sind. Breite Fahrradwege, wovon man in Stuttgart nur träumen kann, verbinden die Ortschaften und Hotels aller Kategorien. So schön möchten wir es hier auch einmal haben.

Nur am äußersten Ende der Insel, über ausgetrockneten Wiesen und brachem Land, erhebt sich ein altes, hässliches, riesenhaftes Backsteingemäuer und streckt seinen Schornstein wie einen warnenden Finger in den Himmel. Denn hier ist Schluss mit aller Zartheit und Jungfräulichkeit, hier ging es einst männlich und kriegerisch zu, hier wollte Adolf Hitler, der Jahrtausendverbrecher, mit seiner V2 eine Wunderwaffe schmieden, um die Welt doch noch zu unterjochen; hier im finsteren Museum von Peenemünde kann man sehen, wohin es führt, wenn sich einer anmaßt, das eigene Volk zu einzigartiger Größe zu führen und wenn die Massen dem Wahn hinterherlaufen.

Diese Landschaft blüht

Lockt sie also doch einmal in diese lehrreiche Ödnis, die Größenbesessenen unserer Tage: den Recep Tayyip Erdogan und den Donald Trump. Hier auf diesem Brachland, das nur noch Gedanken an gestern hervorruft, könnten sie lernen – wenn sie noch lernfähig wären! -, was wir schon wissen: dass sie mit der Größe nur sich selbst meinen und dass sie ihre Länder nicht zur Weltgeltung führen, sondern verzwergen.

Doch lassen wir die Nazi-Düsternis hinter uns, kehren wir zurück ins pastellfarbene moderne Leben an Usedoms Küste, wo heute nichts so ist, wie die Pessimisten unter uns Journalisten einstmals vorausgesagt haben. Ganz im Gegenteil. Helmut Kohl hatte recht. Diese Landschaft blüht, und sie ist voller Leben und Geschäftigkeit.

Gewiss, ein paar westdeutsche Gegenden mussten dafür auf Unterstützung und Annehmlichkeiten verzichten. Das ist bitter, aber das holen wir jetzt nach. Der liebe Wolfgang Schäuble, der auf den Geldsäcken sitzt, kann gar nicht anders: Er muss es möglich machen.