Sie brauchen fast nichts für sich selbst: Vögel leben so, wie es die wenigsten Menschen hinbekommen würden, sagt Kolumnist Mirko Weber.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

München - Hiermit versprochen, dass ich diese Kolumne nicht nützen werde, um aus ihr eine Variation von Brehm’s Tierleben zu stricken. Andererseits schien mir die Sache mit den Vögeln in der vergangenen Woche noch nicht einmal ansatzweise auserzählt, und außerdem haben, wie gemeldet wird, Forscher in Asien gerade einen bisher unbekannten, sagen wir, Kollegen ausgemacht: es handelt sich um den kambodschanischen Schneidervogel (Orthomus chaktomuk), welcher, was in diesem Fall wirklich mal stimmt, aus dem Nichts gekommen ist oder aus der Tiefe des Raumes, wie wir Fußballer sagen, und sich jetzt in Phnom Penh überaus wohlzufühlen scheint. Der Schneidervogel – schöner Name im Übrigen – schaut ein bisschen aus wie Boris Becker vor seinem ersten Sieg in Wimbledon. Äonen her, oder? Auf dem Kopf hat er einen Flaum von roten Federchen – und schaut recht frech, leicht ahnungslos, jedoch gleichzeitig erstaunlich unerschrocken in die Welt, die ihn erst richtig kennenlernen soll.

 

Vor ein paar Wochen – es regnete gerade noch mehr als die ganze übrige Zeit – ist uns daheim von unterm Dach aus dem Nest aufs Fensterbrett eine winzige Meise gesegelt, vielleicht ein paar Tage alt und nicht größer als ein halber Däumling. Die Eltern waren, wie Eltern so sind, außer sich, das konnte man hören. Was tun? Meine Frau hat dann, wie sie so ist, mit erheblichem liebevoll-logistischem Aufwand, eine Art Notlager gebastelt: aus Pappe mit Plastikdach und kleiner Komfortzone. Die Minimeise schrie zum Erbarmen: Hunger! Als wir schon halb die Gummistiefel anhatten, um ein paar Regenwürmer einzusammeln und zu achteln, näherte sich aber tatsächlich die richtige Mutter wieder und nahm den Versorgungsjob an und auf. Ein paar Tage später war die Meisenbox leer. Wir dachten: Mach’s gut, Mini-Meise, und dass man sich vielleicht mal wiedersieht.

Sie haben die meiste Zeit ein Lied auf den Lippen.

Die meisten Vögel leben so, wie es die wenigsten Menschen hinbekommen: sie brauchen eigentlich fast gar nichts für sich selbst und machen der Welt um sie tendenziell hauptsächlich Freude (okay, Regenwürmer und Insekten lassen diesen Passus bitte aus). Am Ende sterben sie – sollten sie schurkischer veranlagten Tieren erfolgreich entkommen sein – meistens auch an Entkräftung. Es ist dann genug mit dem Leben. Sie haben immer alles gegeben und hatten noch die meiste Zeit ein Lied auf den Lippen. Ist es ein Wunder, dass die Vögel an sich im Werk des großen Romantikers (der  gleichzeitig so etwas wie der erste deutsche Symbolist gewesen ist), Joseph von Eichendorff, eine besondere Rolle spielen? Arm an Begierden und reich an Anmut sind sie in den Zonen des Übergangs zu Hause, die einen besonderen Reiz haben. Sie läuten den Morgen ein, und sie singen die Nacht heran.

Eichendorff war tief drinnen fest davon überzeugt (ohne jemals Aufhebens davon gemacht zu haben), dass es eine innere Verwandtschaft gebe zwischen der Seele des Menschen und dem ewigen Kreislauf der Natur, und wer auf die Nachtigall hört in seinen Zeilen, weiß, welchen Beziehungszauber er damit meint. Selbst wenn die Vögel wegfliegen (wie in „Der Vögel Abschied“), hinterlassen sie die Gewissheit, dass die Zurückgebliebenen („Träumt fort im stillen Grunde!/Die Berg stehn auf der Wacht . . .“) darauf hoffen dürfen, dass dies nicht die letzte Begegnung gewesen sein wird. Komme, was will und wo auch immer: es gibt ein Wiedersehen.