Unser Kolumnist Mirko Weber sieht bei den Salzburger Festspielen einen Kopf rollen und beschließt: Er braucht Urlaub.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Salzburg - Als ich in der Salzburger Felsenreitschule im irgendwie ziemlich danebengegangenen „Gawain“ von Harrison Birtwistle saß, sah ich nach einer halben Stunde vor meinem inneren Auge noch einmal eine mediävistische Seminarrunde aus Studiumstagen zum Werk von Hartmann von der Aue, in dessen höfischen Epen die Kerle immer bis ans Ende der Welt ausreiten. Genauso wie Gawain eben.

 

Besonders erinnerte ich mich – obwohl das schon Jahrzehnte her ist – an Erec, einen Hartmannschen Helden von 1180, der sich „verligt“, wie es so schön im Text heißt. Was nichts anderes bedeutet, als dass Erec ziemlich gerne mit seiner Frau chillt. Aber so geht das natürlich nicht im Mittelalter und unter Rittern. Prompt wird Erec, um seine Ehre wiederherzustellen, weit weg beordert (darf dann aber heimkommen – und alles wird gut).

Flucht? Was ist denn das für ein Wort!

Ob das nicht auch eine Art Flucht sei, dieses dauernde Unterwegssein in den Geschichten, hatte damals ein Kommilitone gefragt. Die Frage war ganz und gar nicht dumm. Das Haupt des Professors allerdings schwoll sofort bedenklich rot an. Flucht? Er müsse doch sehr bitten. Auch Anfang der Achtziger war das schon eine bemerkenswert verstaubte Formulierung.

In diesem Moment rollte ein Kopf über die Salzburger Bühne, der Kopf des Grünen Ritters. Das ist, wenn man das Stück kennt, keine sonderliche Überraschung. Trotzdem dachte ich kurz, es sei jetzt an mir, doch sehr bitten zu müssen. Der Kopf, grün bemoost und mit schwarzen Bartfusseln, wurde nämlich nicht auf einem Tablett präsentiert, wie gerne mal der Kopf des Jochanaan in der Straussschen „Salome“, nein. Dieser Kopf machte, was er wollte, schien aber, paradoxerweise, kopflos. Er schlug zweimal auf und rauschte, hast du nicht gesehen, in den offenen Orchestergraben; Kontrabässe, vorletztes Pult.

So ruhig wie in einer Mönchszelle

Die Musik spielte weiter, wobei schon klar war, dass es ohne das Haupt des Grünen Ritters nicht gehen würde – oder nur auf einer anderen, sagen wir, mehr als unfreiwillig komischen Ebene. Die Frau vom vorletzten Pult nun handelte so besonnen wie schnell. Mit dem linken Fuß angelte sie nach dem Kopf, holte ihn ein Stückchen näher ran, setzte kurz den Bogen ab, bückte sich, griff das Haupt am Haaransatz – und setzte es so diskret wie möglich auf den Bühnenrand. Keine Sekunde zu früh. Schon kam der Grüne Ritter selbst, um sich am eigenen Schopf . . . Gut möglich, dass ich meine Identifikationsmuster im Theater oder generell überprüfen sollte, aber ich fühlte mich in diesen Augenblicken mindestens wie die Kontrabassistin, wenn nicht wie der Kopf. Ich ging in die Pause und dachte: Ich brauche Urlaub.

Ein paar Tage später las ich bei dem niederländischen Schriftsteller Cees Noteboom die Antwort auf die Frage aus dem Universitätsseminar von vor dreißig Jahren. Vielleicht hätten wir schon damals lieber bei Noteboom lernen sollen, obwohl er als Schulabbrecher natürlich kein Professor hätte sein dürfen. „Vielleicht ist es so“, schreibt Cees Noteboom, der oft gefragt wird, ob sein ständiges Reisen eigentlich eine Flucht sei, „dass der wahre Reisende sich stets im Auge des Sturmes befindet.“ Und weiter: „ Der Sturm ist die Welt, das Auge ist das, womit er die Welt betrachtet. Aus der Meteorologie wissen wir, dass es in diesem Auge ruhig ist, vielleicht so ruhig wie in einer Mönchszelle.“

Das nehme ich als Auftrag.

Mit anderen Worten: Die Weberei geht für drei Wochen in die Werksferien. Danke für Ihren Zuspruch während der ersten 26 Folgen – und bis bald.