Richtig Schlange zu stehen ist eine Kunst, die in Deutschland leider unterschätzt wird. Unser Kolumnist Mirko Weber reiht sich gern ein.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Fürs Schlangestehen haben wir in Deutschland bis heute kollektiv kein besonders großes Talent entwickelt. Irgendwas geht da in den meisten Fällen schief, um es vorsichtig auszudrücken. Vielleicht handelt es sich um einen nationalen Defekt, das soll es ja geben.

 

Dabei ist die Sache im Prinzip einfach: Wenn man zum Beispiel morgens vor dem Münchner Oberlandesgericht steht, befindet sich dort eine Art Sperrriegel in Form einer gelb-schwarzen Schranke. Es muss erst ein Beamter erscheinen, der diese Schranke einen Spalt aufstemmt, dann folgen zwei schwer bewachte Türen. Gut. Mit der Zeit entwickelt sich eine Schlange: Kopf, Mitte, Ende, einer nach dem anderen. Der Letzte weiß, dass er der Letzte ist, man kann da nicht viel durcheinanderbringen.

In England klappt das mit der Schlange jedenfalls schon seit ewigen Zeiten. Andere Dinge in der britischen Klassengesellschaft mögen daneben sein, sehr daneben sogar. Diskret Schlange stehen funktioniert, auf Deutsch gesagt, 1 a.

Geht die Schranke am Münchner Oberlandesgericht auf (alternativ: Bushaltestelle mit Einstieg vorne, Stadioneinlass, Garderobe im Theater) – hat nun aber in Deutschland in der Regel bereits eine Rudelbildung unter den Schlängelnden eingesetzt. Die Schlange als solche lässt sich nur mehr mit viel Wohlwollen erkennen. Bei anderen Gelegenheiten ist sie nicht nur nicht länger in Idealform, also Individuum nach Individuum geordnet, sondern gar nicht mehr vorhanden, vor allem im Theater an der Garderobe – und wenn es richtig spät geworden ist. Vielmehr schaut es dann direkt so aus wie im Einkaufsladen, wenn über Lautsprecher annonciert wird: „Wir öffnen jetzt auch Kasse zwei!“ Anders gesagt: Es klumpt.

„Geh du mal vor, Alter“

Diese ungeordneten Verhältnisse, ich vermeide schlimmere Ausdrücke, die aufgrund dieser Verhältnisse unter den Wartenden häufiger Erwähnung finden, setzen sich fort bis zum eigentlichen Einlass- oder Ausgabeort, in dessen Kernbereich zumeist ein wortreiches, aber irgendwie hilfloses „Bitte, nach Ihnen“- oder „Geh du mal vor, Alter“-Dialogisieren anhebt. Manchmal wird auch gar nicht mehr verbal kommuniziert, was die Dinge meist nicht einfacher macht. Dann regiert das Recht des Stärkeren, das ist nie gut.

In England zischen sie – ja, wie eine Schlange!, leise und gefährlich –, wenn jemand die etablierte Ordnung auf den Kopf stellen will, und sind vor allem sehr empfindlich, sobald ein bestimmter Abstand zur Vorderperson nicht eingehalten wird. Als Faustregel, abgeleitet aus vielen ungeschriebenen Gesetzen, gilt, ungefähr so viel Platz zu bemessen, wie man zwischen sich und Tante Imogen beim Tanzen ließe, sollte es aus gesellschaftlichen/binnenfamiliären Gründen zu einer solchen Konstellation gekommen sein. Gänzlich zu vermeiden beim Schlangestehen ist ein Moment, den das hauptsächlich im englandaffinen Hamburg und im angelsächsischen Raum sozialisierte Gesamtkunstwerk Harry Rowohlt als vom Drängeln ins anschließende Trödeln übergehende Bewegungsform bereits häufig gegeißelt hat. Freilich ohne größeren Erfolg.

Sollte ich Ihnen im Übrigen gerade in irgendeiner Form zu nahe getreten sein, möchte ich um Verzeihung bitten.