StZ-Kolumnist Mirko Weber steht in Würzburg, als ihm plötzlich in den Sinn kommt, er sollte mal wieder auf dem Saxofon spielen.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Würzburg - Vergangene Woche war ich in Würzburg unterwegs, kam an der Universität vorbei und musste an eine Geschichte denken, die mein alter Bonner Germanistik-Professor Kurt Wölfel (lange emeritiert, aber immer noch Ehrenpräsident der Jean-Paul-Gesellschaft) gerne erzählte und auch einmal aufgeschrieben hat. Nämlich wie die Kleinbürgerfamilie Wölfel, von denen bis dahin keiner je ein Gymnasium von innen gesehen hatte, an Sonntagen durch den Würzburger Residenzgarten spazierte und sich der kleine Kurt vor allem für den Treppenaufgang der Uni interessierte. Am meisten genoss das Kind, resümierte jedenfalls der Erwachsene, zuerst die Aussicht und dann „die Treppe langsam hinabzusteigen zu den Spaziergängern unten: solche Vorstellungen waren der Boden, aus dem mein Wunsch, einmal studieren zu dürfen, hervortrieb“. Wölfels Pointe freilich war diese: Als er nach dem Krieg zu studieren begann, „führte der Weg zu den ausgebauten Vorlesungssälen über einen Seiteneingang im Hinterhof.“ Sehr eigener, vorbildhafter Humor.

 

Im Auto nach Unterfranken unterwegs hatte ich eine Aufnahme des Saxofonisten Sonny Rollins gehört: „Love at first Sight“, vom Anfang der achtziger Jahre. Der jüngst verstorbene George Duke spielt Piano. Rollins war damals fünfzig und hatte schon eine Menge hinter sich. Heute ist er 82 Jahre. Er spielt immer noch. Reduzierter, lange nicht mehr so kolossal wie früher. Ein wenig so, als müsse er auf seine älteren Tage sparsamer umgehen mit den Noten – und völlig anders gewichten (etwa auf „Sonnymoon for two“, mit Ornette Coleman) als zu den Sturm-und-Drang-und-Bop-Zeiten mit Miles Davis und Thelonious Monk.

Auf dem Cover von „Love at first Sight“ sieht man ein wunderbares Selmer-Tenorsaxofon in einer Fotomontage über dem Instrumentenkoffer in der Luft schweben. Es schaut ein bisschen so aus, als sei das Sax gerade auferstanden. „Es lag“, notierte Rollins aus Harlem, New York, als Kindheitserinnerung, „ganz wunderbar und glänzend in dieser Schatulle. Da habe ich mich in das Instrument verliebt“.

Jazz in Vollendung

Zufälligerweise ist gerade in der September-Ausgabe von „Men’s Journal“ ein von Mark Jacobson geschriebenes Rollins-Porträt erschienen. Rollins räumt darin noch einmal mit der Legende auf, er sei ein schwer zu beschädigendes Wunderkind gewesen. Vielmehr habe er sich nach etlichen Drogenexzessen, Diebstählen und einer Anklage wegen Körperverletzung, die ihn auch ins Gefängnis brachte, auf die andauernde Suche begeben: immer nach Gott, aber eben auch nach den richtigen Tönen, also denen, die noch keiner gespielt hat, obwohl natürlich alle Töne schon trilliardenmal durch sind. Anfang der Sechziger übte Rollins, weil er seinen Nachbarn in der Lower East Side zu laut war, täglich auf der Williamsburg Bridge, fünfzehn, sechzehn Stunden. Dann ging er schlafen. Das dauerte zwei Jahre so. Es ist nicht wirklich schön auf und unter der Williamsburg Bridge. Man sieht mehr Ratten, als einem lieb sind. 1962 dann nimmt Rollins an zwei (!) Tagen „The Bridge“ auf: Jazz in Vollendung, und der Höhepunkt ist seine Version von Billie Holidays „God bless the Child“.

So ungefähr, aber noch mehr kreuz und quer natürlich, ging mir das alles durch den Kopf, als ich abends auf der Mainbrücke stand, wo die Würzburger mit ziemlich lässiger Eleganz ihre kleinen Silvaner-Dämmerschoppen kaufen und reden oder individuell in eine Art von überzeugend kontemplativ wirkendem Steh-Yoga übergehen. Ich dachte, ich sollte auch mal wieder anständig üben, also Saxofon. Dann kam ein Straßenmusikant mit einem alten Selmer. Es glänzte im Futteral, als trage es einen Seidenmantel. Schließlich spielte der Mann Jobims Bossa-Nova „Desafinado“. Alles andere wäre in diesem Moment vielleicht auch ein bisschen viel gewesen.