Ein Popsong von Bob Dylan und ein Chanson von Charles Trenet, beide über das Meer – das ist irgendwie untrennbar miteinander verbunden, findet Mirko Weber.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

München - Als die kleine Ausflugsgesellschaft unterhalb der Düne steht, sagt Justizrat Haberland: „Wer die See noch nicht kennt, der trete vor!“, und es melden sich die Großmutter, Pony Hütchen und Emil. Die Szene stammt aus den dreißiger Jahren, aus „Emil und die drei Zwillinge“. Das war Erich Kästners Fortsetzung von „Emil und die Detektive“. Vielleicht sogar noch ein bisschen lesenswerter als das erste Buch. Aber wie auch immer. Die drei jedenfalls kraxeln da hoch und sehen im Abendschein den Strand: Körbe, Wimpel und Sandbuden. Wir sind an der Ostsee.

 

Heute, wo man für fünfzig Euro jederzeit locker ein paar Stunden weit weg fliegen könnte, sind wir natürlich cooler, was Wasser bis hinterm Horizont angeht, aber ein wenig ist doch geblieben von diesem Gefühl, das man hatte, als man’s zum ersten Mal im Leben gesehen hat: das Meer! „Es nahm“, so steht es ziemlich schön bei Kästner, „wohin man auch blickte, kein Ende. Es lag da, als sei es aus flüssigem Quecksilber. . . . Und über das pastellfarbene Himmelsgewölbe glitten die ersten Lichtstreifen entfernter Leuchttürme.“ Am Ende sagt Emils Großmutter mit ihrem rauen Berliner Charme: „Endlich weiß ich, wozu ich so ne alte Schachtel geworden bin.“

Trenet hat das Wunder in nur zwanzig Minuten geschafft

Silberner Glanz, ein paar Wolkenreflexe, schäfchengleiche Schaumkronen, tanzende Wellen – mehr braucht es gar nicht, wenn die Welt auf einmal schon mit Worten wie von selbst an zu singen anhebt, und man kann so ein Wunder ziemlich schnell hinbekommen, wenn man’s kann: zwanzig Minuten angeblich nur – solchen Geschichten wächst ja schnell Legendencharakter zu – soll Charles Trenet gebraucht haben, bis er den Text beisammen hatte zum Chanson aller Chansons: „La Mer“, geschrieben im Zug zwischen Narbonne und Perpignan, wo aus Südfrankreich langsam Katalonien wird. Zwanzig Minuten.

Das Lied, veröffentlicht 1946, wird niemals alt, obwohl sein Schöpfer in diesen Tagen hundert Jahre geworden wäre. Kann man am Meer stehen (merke: man steht nie zweimal vor demselben Meer) und nicht „La Mer“ summen und singen? Fast immer ist es wie zum ersten Mal.

„Blowin’ in the Wind“ ist ziemlich zeitlos geworden

Später, nach ein paar Tagen, mischen sich ein paar andere Klänge in die paar Harmonien und diesen Bass, der brummt wie eine Buche vor dem Gewitter: irgendwas von Daft Punk aus dem Strandclub vielleicht, oder, wenn es sich bewölkt zum Beispiel, ein anderes Lied, das, wie „La Mer“, ziemlich zeitlos geworden ist: „Blowin’ in the Wind“, eins von Bob Dylans frühen Meisterstücken. Zufällig oder nicht zufällig spielt das Meer eine gewaltige Rolle hier: „Über wie viele Meere muss eine weiße Taube schweben, bis sie im Sand schlafen kann?“, fragt der Text. „Und wie viele Jahre dauerte es, bis es den Berg ins Meer wäscht?“ So viele Fragen, so wenige Antworten, denn die Antworten verwehen eben immer mit dem Wind.

„Blowin’ in the Wind“ hat ungefähr doppelt so viel Text wie „La Mer“. Dafür muss Dylan ihn nicht zweimal singen. Geschrieben wird Dylans Stück – in diesen Tagen vor 50(!) Jahren auf „The Freewheelin’ Bob Dylan“ veröffentlicht – gleichwohl ebenfalls sehr schnell. Im Nu ist alles aufgenommen. Ein Geniestreich ist das eine wie das andere. Jeder Mensch kann’s singen.

Und so gehören sie jetzt ein halbes Jahrhundert zusammen, Dylans Song und Trenets Chanson, irgendwie untrennbar, tatsächlich – wie man auf Deutsch so schön sagt – wie der Wind und das Meer.