Die Zustände im Stuttgarter Ausländeramt sind unerträglich und stehen im krassen Widerspruch zur Willkommenskultur, die in Sonntagsreden immer wieder gepredigt wird, meint StZ-Lokalchef Holger Gayer.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Stellen Sie sich vor, Sie kommen in eine fremde Stadt. Auf einem Plakat empfängt Sie der Oberbürgermeister mit einem Lächeln und den Worten: „Sie sind willkommen!“ Wegweiser führen zu einem schmucken Raum in einem repräsentativen Haus, wo zuvorkommende Einheimische erklären, was als nächstes zu tun ist. Sie nehmen den Ihnen gewiesenen Weg, öffnen die Tür des Ausländeramts und fühlen sich wie Gregor Samsa, der „eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte“ und sich „in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“ fand.

 

Franz Kafka in Stuttgart?

Leider haben die Zustände, die laut der Leiterin der Stuttgarter Ausländerbehörde bereits seit mehr als einem Jahr im Schwabenzentrum herrschen, nichts mit hoher Literatur zu tun. Sie beschreiben vielmehr eine Realität, die viel zu lange im Verborgenen geblieben ist. Wenn Menschen, die zufälligerweise nicht in Bad Cannstatt oder Feuerbach geboren wurden, sondern anderswo auf der Welt, einen Stempel auf ihrer Arbeitserlaubnis brauchen und diesen selbst nach stundenlanger Wartezeit nicht bekommen, weil es zu wenige Fachkräfte gibt, die den Stempel auf das Papier drücken könnten, dann ist das nichts weniger als ein Skandal. Mehr als zehn Prozent der Stellen in der Ausländerbehörde sind unbesetzt, der durchschnittliche Krankenstand der Mitarbeiter ist immens, die Fluktuation doppelt so hoch wie in anderen Ämtern. Die Folge: lange Warteschlangen vor spärlich besetzten Büros und – natürlich – aggressive Kunden. Wir Wohlstandschwaben mögen uns nur vor Augen führen, wie ungehalten wir reagieren, wenn wir auf drei Minuten zu lange auf unseren Cocktail warten müssen. Dann mag man ermessen, wie es jemandem gehen muss, der manchmal ganze Tage mit dem Warten auf einen Stempel zubringt – ohne Erfolg.

Untragbare Zustände mitten in der Stadt

Und, ja, all das geschieht nicht irgendwo hinterm Mond oder in einem kafkaesken Vorhof der Hölle, sondern mitten in jener Stadt, in der sich just in dieser Woche ein Ereignis von historischer Bedeutung zum 65. Mal gejährt hat. Am 5. August 1950 wurde in Stuttgart die Charta der Heimatvertriebenen unterzeichnet. Darin heißt es unter anderem: „Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde.“

Inzwischen leben Menschen aus mehr als 170 Nationen in Stuttgart. Die Stadt beherbergt, wie eingangs erwähnt, ein schmuckes Willkommenszentrum am Charlottenplatz und hat einen Oberbürgermeister, der kaum eine Gelegenheit auslässt, in Reden die hiesige Willkommenskultur zu preisen.

Über die Zustände in seinem Ausländeramt hat er bisher nicht gesprochen.