100 Kilometer von Stuttgart entfernt hat sie die Reste ihres Goldballons gefunden, den sie vom Schlossplatz aufsteigen ließ: Marie Lienhard will mit Kunst provozieren – und begeistert mit sensationellen Fotos aus dem Himmel.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles. Seit Goethes „Faust“ ist den Menschen ihr Goldhunger nicht vergangen. Das Edelmetall ist allgegenwärtig und doch so verschieden in seiner Bedeutung. In der goldenen Mitte trifft man sich zu einem guten Kompromiss – goldene Wasserhähne indes sind ein Sinnbild für Dekadenz. Und wie ist ein goldumhüllter Heliumballon mit einem Durchmesser von zwei Metern einzuordnen, der mit Kamera in den Himmel geschickt wird, auf dass er in der Stratosphäre zerfetzt?

 

Ist dies Verschwendung von Steuergeldern? Darf eine Künstlerin, die gegen den Überfluss protestiert und vor weltweiten Spekulationsblasen warnt, die wie ihr Ballon platzen werden, mit Gold spielen?

Ja, sie darf! Besonders dann, wenn die stundenlang frühmorgens im Kunstgebäude aufgeklebten Goldblättchen hauchdünn sind, also keine pure Verschwendung darstellen, und wenn sie einen Wahnsinnsglanz in einen Bilderbuchhimmel setzen, der so blau war wie seit Wochen über Stuttgart nicht mehr. Beim Start am Schlossplatz schien es, als schwebe das Fantasiegebilde eines Märchens über den Königsbau, als spielten die Engel mit einem Goldball.

Städtische Kulturamt fördert das Projekt mit 3800 Euro

Die 3800 Euro, die das Stuttgarter Kulturamt für die Kunstaktion „Logics of Gold“ von Marie Lienhard und ihrem Performance-Kollegen Simon Pfeffel bezahlt hat, sind nicht schlecht angelegt, wenn man die großartigen Fotos sieht, die eine an Schnüren unter dem Ballon hängende Panoramakamera am Himmel gemacht hat.

Der spektakuläre Moment, in dem die goldene Hülle nach Ausdehnung auf den doppelten Umfang wohl in einer Höhe von 30 Kilometern geplatzt ist und sich Goldpartikel in der Stratosphäre verteilten, ist festgehalten. An einem Fallschirm fiel die Kamera mit GPS-Sender auf die Erde zurück. Nach den ersten Berechnungen der Winde dachten die Künstler, die Ballonfetzen und die Kamera in der Nähe von Bad Urach einsammeln zu können. Doch der Wind hatte sich gedreht. Der GPS-Sender lotste Marie Lienhard und Simon Pfeffel nach Sigmaringen, etwa 100 Kilometer vom Startplatz in Stuttgart entfernt.

Performance am 6. Mai um 12 Uhr auf dem Schlossplatz

Nach mehreren Stunden – zuerst suchten sie eine falsche Wiese ab – fanden sie im Schilf, was für den zweiten Teil der Kunstaktion benötigt wird. Die großartigen Aufnahmen werden der Stuttgarter Öffentlichkeit als Virtual-Reality-Ergebnis gezeigt: Von Mai bis September wird die „Goldmarie“ Lienhard, die zuletzt mit ihrem Nacktkalender in Stuttgart für Aufsehen sorgte, an jedem ersten Sonntag des Monats von 12 bis 16 Uhr auf dem Schlossplatz beim Pavillon Passanten die VR-Brille aufsetzen, damit diese die Reise des Heliumballons und seines Endes virtuell nacherleben können. Los geht’s am Sonntag, 6. Mai, 12 Uhr, mit einer „Performance für den öffentlichen Raum“ von Simon Pfeffel.

Spätestens dann werden die Aufsteller vor Kiosken vergessen sein, mit denen die „Bild“-Zeitung einen Skandal anprangern wollte. „Mitten in Stuttgart“, war da zu lesen, „Künstlerin lässt echtes Gold in die Luft fliegen.“ Ein Ballon fliegt zwar nicht, er fährt – aber nicht deshalb waren etliche in der heimischen Kulturszene ziemlich verärgert. Andere amüsierten sich aber auch. Bestimmt hätte das Blatt, so hörte man, über die Verhüllung des Reichstags geschrieben: „Mitten in Berlin – Christo und Jeanne-Claude lassen den Eingang zum Deutschen Bundestag dicht machen.“

Gold für Kunst!

Marie Lienhard im Glück! Diesmal hätte ihre Kunstaktion nicht besser verlaufen können. Vor fünf Jahren ging ein ähnliches Projekt nicht so gut aus. Damals füllte die Künstlerin einen Ballon mit 100 Zehn-Euro-Scheinen, die als „bedingungsloses Grundeinkommen“ auf die Erde regnen sollten. Doch die Ballonfetzen wickelten sich um das gesamte Geld, das am Stück am Boden ankam. Aus der geplanten Verteilung wurde also nichts. Als man die Scheine ausstellte, wurden sie auch noch geklaut.

Gold für Kunst! Die spektakulären Fotos vom zerfetzten Ballon mahnen zum besseren Umgang mit dem Erdball. Was so schön ist, kann bald vorbei sein. Ob Glück oder Gold – alles vergeht viel zu früh, wenn wir auf unsere Schätze nicht achtgeben.