René Higuita taucht überraschend im deutschen Fernsehen auf und weckt ganz unterschiedliche Erinnerungen an die Turniere der 1990er-Jahre.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Eine Fußball-Weltmeisterschaft ist immer auch ein bisschen wie Klassentreffen. Man sieht Leute, die man über viele Jahre völlig aus den Augen verloren hat,und schwelgt dann in Erinnerungen. Ein Unterschied besteht allerdings darin, dass man beim Klassentreffen den alten Bekannten persönlich begegnet, während es bei der WM meist nur zum Fernkontakt kommt, wenn wieder ein Nostalgie-Studiogast vor die TV-Kamera tritt.

 

Bei einem Klassentreffen wiederum ist der Nebensitzer schon nach wenigen Jahren nicht immer auf Anhieb zu identifizieren. Der Wiedererkennungswert bei René Higuita liegt dagegen bei 100 Prozent. Der Kolumbianer sieht exakt so aus wie zu seinen großen Zeiten in den 1990er-Jahren. Was zu einem an seiner unverändert offen getragenen schwarzen Lockenmähne liegt und möglicherweise an ein paar operativen Schönheitseingriffen im Gesicht, denen er sich im Zuge einer kolumbianischen Dokusoap live unterziehen ließ.

So steht René Higuita jetzt im WM-Studio des ZDF. Der Baden-Badener Sommerhitze zum Trotz trägt er einen spektakulären Ledermantel und redet über die Auftaktniederlage der kolumbianischen Mannschaft gegen Japan. Higuita scheint erregt zu sein. Es fällt allerdings einigermaßen schwer, ihm zuzuhören, schweifen die eigenen Gedanken doch ständig ab in die Vergangenheit. Beim Anblick des 51-Jährigen laufen vor dem geistigen Auge Szenen der WM 1990 in Italien ab, als die deutsche Mannschaft eine mitreißende Titelgeschichte schrieb.

Für das begleitende Showprogramm war damals vor allem René Higuita zuständig. Seine Ausflüge tief in die gegnerische Hälfte hatten höchsten Unterhaltswert, ebenso seine Freistöße und Elfmeter. Er entwickelte auch den absurdesten Trick der Fußball-Geschichte: den Skorpion-Kick. Anstatt einen Schuss auf sein Tor mit den Händen abzuwehren, sprang er nach vorne und schlug den Ball mit den Hacken über seinen Kopf hinweg zurück ins Feld. El Loco nannten sie ihn, den Verrückten.

Es war ja auch damals zum Verrücktwerden in Kolumbien, als Guerillagruppen, Drogenkartelle und Paramilitärs das südamerikanische Land in ein brutales Chaos stürzten. 1994 wurde auch der Fußball mithineingezogen. Higuitas Teamkollegen Andrés Escobar unterlief bei der WM im Gruppenspiel gegen Gastgeber USA ein Eigentor. Die Kolumbianer schieden aus. Nur wenig Tage später wurde Escobar in Medellin vom Bodyguard eines Drogenbosses erschossen. Bis heute ist unklar, ob ein enttäuschter Fan zum Mörder wurde, oder ob die Wettmafia einen Killer angeheuert hatte. Auch Higuita geriet zwischen die Fronten des Bürgerkriegs, als die Drogenmafia das Kind eines Freundes entführt hatte und er als Vermittler und Überbringer des Lösegeldes fungierte. Zweimal wurde Higuita auch wegen Kokainspuren in seinen Dopingproben gesperrt.

Darüber redet René Higuita im WM-Studio allerdings nicht. Egal. Es fällt einem ja alles von alleine ein, beim Wiedersehen mit El Loco.