Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auf. Trotzdem hat der Gipfel in Chile am Wochenende gezeigt, dass Lateinamerika und die EU sich in Chile auf Augenhöhe begegnen, meint StZ-Redakteur Klaus Ehringfeld.

Korrespondenten: Klaus Ehringfeld (ehr)

Chile - Das Treffen der europäischen und lateinamerikanischen Staats- und Regierungschefs in Chile am Wochenende stand unter neuen Vorzeichen: Erstmals traf nicht ein starkes und geeintes Europa auf ein schwaches und klammes Lateinamerika. Chile war der Gipfel der veränderten Rollen, ein Treffen auf Augenhöhe und ohne europäische Arroganz.

 

Iberoamerika ist gerade dabei, sich politisch und wirtschaftlich neu in der Welt zu positionieren. Und die 27 Staaten der europäischen Gemeinschaft nehmen aus Chile die Botschaft mit, dass sie sich mühen müssen, ihre über Jahrzehnte hinweg privilegierte Stellung zu bewahren. Europa war seit dem vergangenen EU-Lateinamerika-Gipfel von Madrid im Mai 2010 stark mit sich selbst beschäftigt gewesen: zitternde Börsen, der Kampf um den Euro, das Ende der Konsensgesellschaft. Dabei sind dem Alten Kontinent die traditionellen Verbündeten jenseits des Atlantiks abhandengekommen. Zugleich sind neue starke Akteure auf den Plan getreten: Asien, hier vor allem China und Indien, aber auch Afrika und die arabische Welt haben manche Lücke gefüllt, die von der 27er-EU-Gemeinschaft aufgerissen wurde.

Offenbar haben noch nicht alle großen EU-Staaten diese Zeichen der Zeit erkannt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Strapazen der Reise auf sich genommen. Auch Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy flog nach Chile. Aber Italien, Frankreich und Großbritannien schickten nur die zweite Garde. Dabei brauchen sich die beiden Weltregionen. Lateinamerika ist in jüngerer Zeit ein Stück europäischer geworden: politisch stabiler, wirtschaftlich erfolgreich. Nur im Sozialen ist die Rückständigkeit geblieben. Parallel dazu hat sich Europa ein Stück weit lateinamerikanisiert. Hier ist die Schere zwischen Arm und Reich deutlich gewachsen, die sozialen Spannungen haben zugenommen. Und manche Politiker gebärden sich lächerlich, autoritär und populistisch, wie man in Italien oder Ungarn sehen kann. Zudem sind Teile Europas so verschuldet wie einst die Latinos. Dafür stehen heute in São Paulo, Mexiko-Stadt, Bogotá und Lima die Investoren geradezu Schlange.

Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auf

Europäische Konzerne sind derzeit für knapp die Hälfte aller ausländischen Direktinvestitionen zwischen Mexiko und Argentinien verantwortlich. Doch in wenigen Jahren könnte China Europa als größten Investor abgelöst haben, sagen Forschungsinstitute voraus. Denn vielen gilt Lateinamerika als das neue gelobte Land. Der Kontinent hat Rohstoffe im Überfluss. Chile hat die größten Kupferreserven der Welt, Mexiko und Peru die größten Silbervorkommen, Venezuela schwimmt in Öl, und Argentinien und Brasilien sind führend bei Fleisch- und Getreideexporten. Dazu entsteht in vielen Staaten inzwischen eine breitere Mittelklasse, die nach Bildung strebt und konsumieren will.

Längst aber investieren auch die sogenannten Translatinos in Europa. Brasilien ist nach den USA, der Schweiz und Japan der bedeutendste Investor in der EU. Auch Mexikos Krösus Carlos Slim, der reichste Mensch der Welt, kauft Telekomkonzerne in den Niederlanden und Österreich. Der mexikanische Baustoffkonzern Cemex mischt jetzt auch Zement in Deutschland.

Lateinamerikas größte Baustelle bleibt die soziale Ungleichheit. Der Gipfel-Gastgeber Chile ist dafür ein gutes Beispiel. Das Land wächst konstant und hat in den vergangenen Jahren den Anteil der Armen um ein Drittel senken können. Aber nach wie vor gehört Chile zu den zwölf Ländern mit der größten Schere zwischen Arm und Reich. Legt man den sogenannten Gini-Koeffizienten zugrunde, der einkommensbedingte soziale Ungleichheit misst, reiht sich Chile bei Staaten wie Honduras und Sierra Leone ein. Beim sozialen Ausgleich hat Lateinamerika viel zu lernen. Das europäische Modell könnte hier weiterhelfen.