Ägypten droht in einem bürgerkriegsähnlichen Chaos zu versinken. Der Kampf um die Macht wird immer brutaler. Weder Militär noch Muslimbrüder sind zum Einlenken bereit, konstatiert der StZ-Redakteur Christan Gottschalk.
Stuttgart - Wenn es aus all diesem ägyptischen Chaos etwas Positives zu berichten gibt, dann dieses: so schlimm wie in Syrien geht es am Nil nicht zu. Ein echter Trost ist das freilich nicht. Was vor zweieinhalb Jahren als Revolution der Hoffnung begonnen hat, ist zu einer Demonstration des Scheiterns geworden. Damals gingen die Menschen auf die Straße in der Absicht, sich mit ihren Protesten vom Joch der Bevormundung und Unterdrückung zu befreien. Welch ein Irrglaube. Es kamen neue Herrscher, demokratisch gewählt, das ist wahr, aber dann doch auch nur am Ausbau der eigenen Macht interessiert. Nun sind die alten Herren in ihren Uniformen wieder obenauf. Sie arbeiten machtvoll daran, dort auch zu bleiben.
Auf den ersten Blick scheint es so, als habe Ägypten das Rad der Geschichte einfach zurück gedreht und wieder den Zustand erreicht, in dem es sich in den letzten Tagen des Mubarak-Regimes befunden hat. Doch so ist es nicht. Die Gräben, die schon immer in der Gesellschaft vorhanden waren, sind in den vergangenen zweieinhalb Jahren erst offensichtlicher und dann tiefer geworden. Jeder auf dem politischen Parkett des Landes hat seinen Anteil daran. Es gibt in Ägypten kein Gut und kein Böse. Gegenüber stehen sich Wahnsinn und noch viel größerer Wahnsinn.
Es gibt keine Anzeichen für eine Umkehr
Es gibt auf keiner Seite auch nur den Hauch von Verständnis dafür, dass ein funktionierendes Gemeinwesen Kompromisse benötigt. Wer auch immer in dem Land die Macht in den Händen gehalten hat ist nicht auf die Idee gekommen, die Andersdenkenden zu integrieren oder in politische Prozesse einzubinden. Und in dem falschen Stolz, die Angelegenheit alleine regeln zu können, haben die Ägypter die Hilfsangebote von außen regelmäßig in den Wind geschlagen.
Es gibt im Augenblick keine Anzeichen dafür, dass die Toten der letzten Tage Anlass zur Umkehr sein könnten. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Muslimbrüder und Militär versuchen, die Deutungshoheit über die Ereignisse zu erlangen, dem anderen die Schuld zuzuschieben und sich selbst von aller Sünde reinzuwaschen. Es ist fatal, dass sich selbst in dieser Situation keine Stimme der Vernunft erhebt. Den Schlüssel für ein friedvolles Miteinander hat immer der Mächtige in der Hand: Er muss dafür sorgen, dass die andere Seite an wichtigen Entscheidungen beteiligt wird. In Ägypten aber halten die Machthaber an der jahrzehntealten Tradition fest, die Vertreter einer anderen Meinung nach Kräften zu schikanieren, zu drangsalieren und zu unterdrücken.
An potenziellen Märtyrern fehlt es nicht
Diese totale Unfähigkeit zum Kompromiss ist die große Gemeinsamkeit zwischen Ägypten und Syrien. Im Reich von Baschar al-Assad hat diese Unfähigkeit in den letzten zwei Jahren mehr als 100 000 Menschen das Leben gekostet. Die Angst, Ägypten könne sich in ähnlichen Bahnen bewegen, ist vielerorts greifbar. Doch es gibt auch einen gewaltigen Unterschied. In Syrien haben die Konfliktparteien starke Partner, die mit Waffenlieferungen das Sterben im Land befeuern. Das ist am Nil nicht der Fall. Man kann zwar nicht ausschließen, dass die radikalen Kräfte auf Seiten der Muslimbrüder nun den bewaffneten Kampf gegen das Militär aufnehmen. Dass es in ähnlicher Weise geschieht wie in Syrien ist dennoch unwahrscheinlich.
Sehr viel näher liegt die Möglichkeit, dass die von der Macht Vertriebenen letztlich wieder dort hingehen müssen, wo sie schon zuvor jahrelang gewesen sind: in den Untergrund. An potenziellen Märtyrern, die von dort aus bereit sind, gegen die Staatsspitze zu kämpfen, wird es nach den Ereignissen der vergangenen Tage bestimmt nicht mangeln. Es steht zu befürchten, dass Gewalt mit Gegengewalt beantwortet wird, dass sich eine Spirale der Vergeltung in Gang setzt, die es in absehbarer Zeit unmöglich macht, sich dem Kern des Problems zu nähern.