Die Misere nach der Jamaika-Pleite: Angela Merkels Schwäche erscheint als Stärke, weil die anderen noch schwächer sind, meint StZ-Autor Armin Käfer.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Fürchtet euch nicht, so lautet eine zentrale Botschaft der Bibel. Sie zieht sich wie ein Leitfaden vom Fünften Buch Mose bis zu den Petrusbriefen. Die Pfarrerstochter Angela Merkel hat den trostreichen Spruch in der schwierigsten Phase ihrer Kanzlerschaft zu einer Art persönlichen Parole abgewandelt: „Ich fürchte mich vor nichts“, sagt sie – nachdem ihr fast alles misslungen ist, was sie sich für dieses Jahr vorgenommen hatte: Die Wahl endete für ihre Partei mit der größten Schlappe, seit es die CDU gibt. Und sie schaffte es bisher auch nicht, eine stabile Regierung auf die Beine zu stellen.

 

Dennoch hat Merkel einen guten Grund, so zu reden. Sie kann fest darauf vertrauen, dass die SPD sie aus der Misere retten wird. Die restlichen Zweifel wird der sozialdemokratische Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seinem Genossen Martin Schulz schon noch ausreden, wenn er ihn kommende Woche gemeinsam mit Merkel in Schloss Bellevue empfängt. Es ist aber keineswegs so, dass der Kanzlerin vor gar nichts bange sein müsste. Die permanente Unsicherheit einer Minderheitsregierung würde sie das Fürchten lehren. Von einer Neuwahl hätte sie auch nichts Gutes zu erwarten. Und falls die SPD sich nochmals zu einer großen Koalition bereitfindet, wird sie Merkel einen Preis abverlangen, der die Union und deren Anhänger gruseln lässt.

Merkel gilt als Inbegriff von Stabilität – doch ihre Stabilität ist ins Rutschen geraten

Merkels trotziges Bekenntnis entspricht also kaum der Wahrheit, es ist dennoch authentisch. Auf dieser Unerschrockenheit gründet ihr Ansehen als mächtigste Frau der Welt – wobei ihre Macht im Moment nicht mehr als ein Anspruch ist: Merkel bleibt vorerst eine Königin ohne Land. Weil sie sich auch von Leuten wie Trump, Putin oder Erdogan nicht beirren lässt, genießt sie einen Respekt in der Welt, der so weit geht, dass auch Italiener, Franzosen und andere EU-Nationen beunruhigt sind, wenn Merkel zu wanken scheint. Unter ihrer Regentschaft wurde Deutschland zu einem Hort der Stabilität. Doch Merkels Stabilität ist ins Rutschen geraten.

Ihre Kanzlerschaft war schon gefährdet, noch ehe sie diese wirklich erreicht hatte. Als Merkel ihren Wahlsieg 2005 beinahe verstolperte, wäre sie von den Granden der CDU weggemobbt worden, hätte nicht der Vorgänger Schröder sich dermaßen provokant daneben benommen, dass der Union gar nichts anderes übrig blieb, als die Reihen zu schließen. Inzwischen gibt es keinen mehr, der sie wegmobben könnte. Merkels Schwäche erscheint als Stärke, weil die anderen noch schwächer sind.

Jamaika ist nicht an ihr, aber auch wegen ihr gescheitert

Die Jamaika-Pleite war dennoch der Anfang vom Ende der Ära Merkel. Die Koalition mit Grünen und Liberalen ist nicht an ihr, aber auch wegen ihr gescheitert. Der Kanzlerin, die seit immerhin zwölf Jahren regiert, gelang es zu keinem Zeitpunkt, eine Idee zu vermitteln, welche ein solches Bündnis tragen sollte. Mit Jamaika scheiterte Merkels Politikstil: das Vertrauen darauf, dass offenkundige Widersprüche sich schon irgendwie auflösen würden, wenn man nur lange genug verhandelt hätte. Merkel hat immer regiert, als wäre sie die oberste Buchhalterin der Republik. Daran erinnert die Liste von mehr als 200 ungelösten Detailfragen nach viereinhalb Wochen Sondierungsgesprächen. So zerfasert ein Projekt, dem jede Vision fehlt.

Auch wenn Merkel sich in eine vierte Regierung retten kann: ihre Macht schmilzt. Mit der fahrlässigen Flüchtlingspolitik vor zwei Jahren und der bis nach dem Wahldebakel starrsinnig wiederholten Behauptung, sie habe nichts falsch gemacht, verprellte sie viele Unionswähler und begünstigte den Aufstieg einer Rechtsaußen-Partei. Die CDU ist wegen Merkels Weichspülpolitik an Beliebigkeit kaum noch zu überbieten. Eine neuerliche Koalition, in der die SPD die Themen diktiert, dient nicht der Profilierung. Angela Merkel ist der letzte Trumpf, inzwischen aber auch ein enormes Risiko für ihre Partei.