Pünktlich zum Tag der Arbeit lässt die IG Metall ihre Warnstreikwelle in der Metallindustrie rollen. Auch der Tarifkampf von Verdi ist noch nicht ausgestanden. Das Selbstbewusstsein der deutschen Gewerkschaften birgt Risiken, meint Matthias Schiermeyer.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Eine Welle der organisierten Erregung geht durchs Land. Wie von höchster Stelle inszeniert, lässt die IG Metall nun ihre erste Warnstreikwelle rollen, nachdem Verdi ihre Ausstandsserie im öffentlichen Dienst gerade beendet hat – genau gesagt, vorerst beendet hat, wenn es bis zum Samstag keine Einigung gibt. Für Sonntag, den Tag der Arbeit, rufen alle Gewerkschaften gemeinsam zum Protest auf die Marktplätze. Diese Dramaturgie ist auch dem Zufall geschuldet. Doch zeigt sich, dass Geschlossenheit stark macht. Der Solidaritätsbegriff mag vielen altbacken erscheinen, seinen Wert hat er nach wie vor in den Belegschaften.

 

Die Gewerkschaften haben einen beträchtlichen Einfluss

So ist der Tag der Arbeit für die Gewerkschaften auch ein Tag der Genugtuung. Die Dekade der Schwäche haben sie hinter sich gelassen, ihr Einfluss auf der politischen Bühne ist so groß wie lange nicht. Dank der SPD und auch der Kanzlerin wurde einiges erreicht: der gesetzliche Mindestlohn vor allem, die Rente nach 45 Versicherungsjahren, bald auch eine Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen. Andrea Nahles, sozialdemokratische Arbeitsministerin und IG-Metall-Mitglied, betreibt – soweit die Union es zulässt – eine Politik voll auf Linie der Gewerkschaften. Aber auch das viel kritisierte Förderprogramm zur Elektromobilität ist ein Beleg für die Mitsprache der IG Metall hinter den Kulissen.

Die gegenwärtige Stärke folgt der langjährigen Schwäche

Allerdings erscheinen die Gewerkschaften nur deswegen so stark, weil sie zuvor viele Jahre so schwach waren. Anfang des Jahrtausends haben sie es zugelassen, dass sich ein riesiger Niedriglohnsektor in Deutschland bilden konnte – es war ein hoher Preis für die geringe Arbeitslosigkeit heute. Gewicht hat das Wort der Arbeitnehmervertreter auch in Baden-Württemberg: In der grün-roten Landesregierung sitzen sie quasi mit am Kabinettstisch. Doch gerade hier zeigt sich: Kein Funktionär sollte es sich in der Nähe zur Macht bequem machen. Wie in Stuttgart könnte sich das Fenster der Gelegenheit auch in Berlin wieder schließen – sofern Grüne und Schwarze bei der nächsten Bundestagswahl das Mandat zur Regierung erhalten und die Roten nur noch zuschauen dürfen. Der Schäuble-Vorstoß für den späteren Rentenbeginn und die Aufwallungen in der CSU sind deutliche Signale für den Wunsch nach einem fundamentalen Kurswechsel.

Auch die Arbeitgeber brauchen die Warnstreiks

Deutschland steht wirtschaftlich auch deswegen so gut da, weil es eine relativ stabile Sozialpartnerschaft vorzuweisen hat. Zwar haben die Metallarbeitgeber lange nicht mehr ein so niedriges erstes Lohnangebot gemacht. Die Tarifrunde ist von ungewohnter Härte geprägt. Doch beinhalten der rüde Ton wie auch die Warnstreiks eine hintersinnige Logik: Nicht nur die Gewerkschaft beweist dem eigenen Anhang damit Kampfbereitschaft – auch die Arbeitgebervertreter brauchen die Streiks, um die Verbandsmitglieder von der Konsequenz des eigenen Handelns und später von der Notwendigkeit des Kompromisses zu überzeugen. Somit darf jetzt noch keine Einigung herauskommen, das wird frühestens in der zweiten Mai-Woche der Fall sein.

Die Tarifbindung wird weiter geschwächt

Die Konfliktmechanismen sind im Grundsatz bewährt. Die Verhältnismäßigkeit von Warnstreiks steht jedoch infrage, wenn in einer relativ frühen Phase fast der gesamte Flugverkehr blockiert wird (wie am Mittwoch durch Verdi) oder wenn die IG Metall rasch zum neuen Instrument der ganztägigen Streiks greifen würde. In anderen europäischen Ländern haben die Gewerkschaften durch überzogene Ausstände ihren Ruf ruiniert. Hierzulande haben die DGB-Organisationen bisher Akzeptanz durch umsichtiges Handeln erworben. Weichen sie davon ab, wird die Tarifbindung, die im deutschen Durchschnitt auf magere 60 Prozent gesunken ist, noch weiter zurückgehen, weil sich immer mehr Arbeitgeber dem Druck entziehen wollen. Die Stärke einer Gewerkschaft ist es daher auch, wenn sie das rechte Maß erkennt.