Mit den Warnstreiks im Öffentlichen Dienst lassen die Gewerkschaften die Muskeln spielen. Doch die Tarifrunde ist kompliziert, deshalb warnt der StZ-Redakteur Matthias Schiermeyer vor Übermut im Arbeitskampf.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Der öffentliche Dienst ist für Verdi & Co. nach wie vor eine Bastion. In den Kommunen können die Gewerkschaften auf gut organisierte Belegschaften zählen, die bundesweite Streiks wie in dieser Woche zu einem Ereignis machen. Wenn Busse und Bahnen stehen, wenn Kitas und Bäder geschlossen bleiben oder die Mülltonne nicht geleert wird, schaut jeder hin. Obwohl sie damit etliche Bürger verärgern: Bei ihren wirkungsvollen Aktionen in den Städten holen sich die Gewerkschaften die Kraft, die ihnen andernorts längst ausgegangen ist.

 

Dass sie ihre Muskeln schon gleich nach Beginn des Tarifkonflikts spielen lassen, ist im Grunde nebensächlich – Hauptsache, die Warnstreiks bleiben verhältnismäßig und beschleunigen den Gehaltspoker. Ein vom Schlichter initiierter Kompromiss ist nicht zwingend besser als ein frühes Resultat am Verhandlungstisch. Ohnehin sind Tarifrunden im öffentlichen Dienst kein Selbstzweck für Verdi. Hier wird mit Macht ein Verteilungskampf geführt, der auf weniger beachtete Bereiche ausstrahlen soll. Wenn mit Hilfe der sogenannten Kampftruppen – also der Stadtbahnfahrer oder Müllmänner, der Pfleger oder Erzieherinnen – kein ordentliches Lohnplus herauszuholen ist, dürfte dies an anderer Stelle erst recht nicht zu erreichen sein.

Fingerspitzengefühl ist gefragt

Entsprechend engagiert gingen die Gewerkschaften zuletzt bei Bund und Kommunen zu Werke. Trotz des exorbitanten 6,3-Prozent-Abschlusses von 2012 wollen sie nicht lockerlassen. Um die sieben Prozent sind diesmal aufgerufen. Offenkundig will Verdi das Wirtschaftswachstum und die Rekordsteuereinnahmen weiter für sich ausnutzen, bevor es zu konjunkturellen Einbrüchen kommt. Für die Beschäftigten des Nahverkehrs werden sogar zehn Prozent mehr verlangt. Das erinnert an die Vorgängergewerkschaft ÖTV und ihre Höhenflüge unter Heinz Kluncker Anfang der 70er Jahre – so gesehen hat Verdi unter Frank Bsirske zu altem Selbstbewusstsein zurückgefunden. Doch Vorsicht: überhöhte Abschlüsse beförderten damals eine ungesunde Lohn-Preis-Spirale. Heute ist mehr Fingerspitzengefühl gefragt.

Die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst, dem besten weltweit, haben etwas vorzuweisen: Motivation und Effektivität vor allem. Die Arbeit verdichtet sich, und ihre Einkommen fallen auch aufgrund früherer Sparrunden nicht üppig aus – gerade in den unteren Entgeltgruppen, wo die Masse der Beschäftigten zu finden ist. Die Stadt Stuttgart legt mit Bedacht 100 Euro pro Monat bei den Erzieherinnen drauf, um an Personal zu kommen. Somit ist der von Verdi nun geforderte Sockelbetrag von 100 Euro für alle ein sinnvolles Instrument. Er stützt zudem den Binnenkonsum und damit die deutsche Wirtschaft.

Kommunen müssen ihre Fachkräfte besser bezahlen

Doch der Widerstand der Arbeitgeber dagegen ist verständlich, weil ein stattlicher Sockel die Haushalte besonders belasten würde. Zudem wird der Wettbewerb um den Nachwuchs eher in den oberen Einkommensstufen geführt. Im Zuge der demografischen Entwicklung können die Kommunen gar nicht umhin, als ihre Fachkräfte künftig besser zu bezahlen.

Es allen recht zu machen, können sich die Kommunen in ihrer Zwickmühle keinesfalls leisten. Trotz heftig sprudelnder Steuerquellen sind die Gesamtverschuldung und der Bestand an Kassenkrediten so hoch wie nie. Zu darben haben nicht die wirtschaftsstarken Räume im Südwesten, sondern die Städte und Gemeinden in Notstandsgebieten wie dem Ruhrgebiet. In erster Linie ist die Politik gefordert, strukturschwachen Regionen und chronisch unterfinanzierten Bereichen wie den Krankenhäusern zu helfen. Diese Last kann nicht den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes aufgebürdet werden. Doch ganz aus den Augen verlieren sollten die Gewerkschaften diese Diskrepanz auch nicht. Eine Eskalation wäre kaum gerechtfertigt. Mutig dürfen sie agieren – nicht übermütig.