Islamistische Gruppen sind im Nahen Osten auf dem Vormarsch. Der StZ-Korrespondent Martin Gehlen hält den Zerfall des bisherigen Staatensystems für möglich. Noch weiß niemand, ob und wann die Lawine des Zerfalls zu rutschen beginnt.

Bagdad - In diesem Punkte könnte Ägyptens Feldmarschall auf dem Präsidententhron Recht behalten: Sollten die Kurden im Nordirak in den nächsten Monaten ihre Unabhängigkeit proklamieren, mahnte dieser Tage Abdel Fattah al Sisi, werde die gesamte Region entlang ethnischer und religiöser Bruchlinien zerfallen und in zahllose rivalisierende Kleinstaaten zersplittern. Für den Nahen Osten wäre das eine doppelte Katastrophe – das Ende der ineinander verwobenen kulturellen und religiösen Vielfalt, die den Orient über viele Jahrhunderte geprägt und so faszinierend gemacht hat. Und das Ende der arabischen Nationalstaaten, welche die westlichen Kolonialmächte nach dem Ersten Weltkrieg aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches gestampft haben.

 

Noch weiß niemand, ob und wann die Lawine des Zerfalls zu rutschen beginnt, wie mächtig sie sein wird und an wessen Grenzen sie zum Stehen kommen könnte. Der Feldzug der IS-Gotteskrieger auf Bagdad jedoch ist mehr als eine Episode in der langen Chronik der Gewalt im Nahen und Mittleren Osten. Iraks staatliche Existenz ist mittlerweile so prekär, dass seine verbliebenen Truppen mit vereinter amerikanischer, iranischer und russischer Militärhilfe gegen die schwarz gekleideten Eindringlinge zu Felde ziehen – vor Wochen wäre das noch eine völlig undenkbare Koalition gewesen. Jetzt ist das ein untrügliches Indiz für die Dimension der Krise.

Denn die neue Generation von Extremisten hat einen ganz anderen Orient und eine komplette Neuordnung der Region im Sinn. Ihre Kämpfer sind gut organisiert und finanziert, diszipliniert und waffenerprobt. Ihr erklärtes Ziel ist der Aufbau eines Kalifats mit einem mörderischen Scharia-Regime. Diese Pläne vorschnell als extremistische Hirngespinste abzutun, wäre fatal. Denn der Strategiewechsel, weg von der extra-territorialen Al Kaida-Ideologie, hin zur Propaganda für ein autonomes, muslimisches Großreich wie zu Mohammeds Zeiten, das ist die eigentliche Revolution, die in den nächsten Jahren den gesamten Orient in Atem halten wird.

Auch die reichen Golfstaaten fürchten die Gewalt

In Syrien haben sich die IS-Krieger und Al Kaida-Brigaden bereits in zahlreichen Landstrichen festgesetzt. Die fünf eroberten Westprovinzen des Irak werden sie nicht mehr aus ihren Klauen lassen. Jordanien ist das nächste Ziel, wo ebenfalls Teile der Bevölkerung für extremistische Ideen und antiwestliche Ressentiments empfänglich sind. Auch das halbzerbrochene Libyen könnte leichte Beute werden. Der Libanon ist schon lange ein Scherbenhaufen. Selbst in dem 5000 Jahre alten Ägypten wächst das Beben in den Fundamenten. Die stärkste Armee des Nahen Ostens wird mit den Gotteskriegern auf dem Sinai einfach nicht fertig, deren Terror sich immer ungehemmter in das bevölkerungsreiche Niltal ausdehnt.

Sogar die arabische Halbinsel, die sich nach wie vor als Hort der Stabilität und des Wohlstands inszeniert, könnte bald in diesen destruktiven Sog geraten. Die saudische Nordgrenze haben die IS-Brigaden bereits im Visier. An der Südgrenze häufen sich die Zwischenfälle mit Landsleuten, die als Dschihadisten im Jemen Unterschlupf gefunden haben. Und so ahnen inzwischen auch die Könige und Emire am Golf, dass sie mit ihren Waffenkäufen für Syriens Gotteskrieger und ihren Werbemilliarden für die salafistisch-puritanische Weltmission Kräfte heraufbeschworen haben, die ihnen selbst gefährlich werden könnten.

Das bedeutet nicht, dass das gegenwärtige Gefüge arabischer Nationalstaaten in absehbarer Zeit komplett kollabieren wird. Den Kernnationen des Nahen und Mittleren Ostens aber droht ein langes Siechtum – ihre Territorien sind in Gefahr, mit Enklaven islamistischer Elitekämpfer durchlöchert zu werden. Ihre staatliche Architektur wird unaufhaltsam zerfressen von Kämpfen, Attentaten und Gewalt.