Der Anschlag auf eine Synagoge, bei dem vier betende Juden und ein Polizist getötet wurden, steht für die Eskalation der Gewalt in Israel. Dies könnte in einen dritten Aufstand der Palästinenser münden, befürchtet die StZ-Korrespondentin Inge Günther.

Jerusalem - Der „heilige Boden“ Jerusalems scheint derzeit vor allem Fanatiker und Gewalttäter zu inspirieren. Brandsätze auf Kirchen, Moscheen und Synagogen sind in der Stadt der drei Weltreligionen schon lange schlimmer Alltag. Aber wer fromme Juden beim Morgengebet hinmetzelt, schreckt vor gar nichts mehr zurück. Dass die von zwei Palästinensern in einer Jerusalemer Synagoge verübte Tat von arabischen Sympathisanten bejubelt wird, ist schwer erträglich. Der Hass, der sich während des Gazakrieges mit mehr als 2000 Todesopfern aufgestaut hat, ist allerdings auch nicht zu unterschätzen.

 

Ohnehin hilft moralische Verurteilung nicht weiter. Die Spannungen in Jerusalem haben sich seit Monaten gefährlich aufgeladen, vor allem an seinem heiligsten Zentrum, dem Tempelberg mit der Al-Aksa-Moschee. Selbstherrliche israelische Politiker, die den Status quo dort in Frage stellten, haben dazu beigetragen und ebenso palästinensische Fraktionen, die das zur Stimmungsmache in der islamischen Welt nutzten. 1,8 Milliarden Moslems weltweit potenziell hinter sich zu wissen gleicht ihre sonst empfundene Ohnmacht gewissermaßen aus. Auch Präsident Mahmud Abbas hat sich zu gefährlichen Tiraden hinreißen lassen.

Schlechte Zeiten für Deeskalation

Doch einseitige Schuldzuweisungen sind verfehlt. Israels Premier Benjamin Netanjahu hat ebenfalls wenig getan, um seine rechtsnationalen Partner zu bändigen. In Israel riecht es nach Wahlkampf. Der nationalreligiöse Naftali Bennett, der immer populärer wird, lehrt Netanjahu das Fürchten. Nicht viel anders ist es in Palästina, wo Abbas in den Umfragen bei Tiefstwerten steht. Dort zeichnet sich ein Machtkampf zwischen Moderaten und Militanten ab: schlechte Zeiten für Deeskalation.

Das macht die Angst vor einer Intifada, einem palästinensischen Aufstand, der wie ein Flächenbrand um sich greifen könnte, umso größer. Zumal man aus der Erfahrung mit der ersten Intifada, dem „Aufstand der Steine“, wie auch der zweiten Intifada, in der sich palästinensische Selbstmordattentäter in israelischen Cafés und Bussen in die Luft sprengten, weiß: wenn sich das Feuer in alle Richtungen ausbreitet, lässt es sich nicht mit ein paar Löschtanks eindämmen. So weit ist es in Jerusalem noch nicht, wo seit Wochen Straßenproteste in arabischen Vierteln und tödliche Anschläge an Straßenbahn-Haltestellen Schlagzeilen machen. Die Akteure waren bisher ein paar Hundert Jugendliche oder Einzeltäter. Die meisten Bewohner, auch im Ostteil, sind in der Rolle besorgter Zuschauer.

Jerusalem hat viele potenzielle Brandherde

Aber der Anschlag auf die Synagoge zeigt, dass radikale Organisationen ganz gezielt zündeln – nicht nur mit aggressiven Graffiti im Internet, sondern mit mörderischen Aktionen. Das ist eine neue Qualität. Netanjahus Versprechen, das er kürzlich US-Außenminister John Kerry und dem jordanischen König Abdullah gab, die moslemischen Vorrechte auf dem Moscheen-Plateau auch künftig zu respektieren, macht auf solche Leute keinen Eindruck. Zudem kam der Versuch, das gefährlichste aller Pulverfässer im israelisch-palästinensischen Konflikt aus der Schusslinie zu ziehen, spät – womöglich zu spät. Jerusalem hat viele potenzielle Brandherde, und unter der Oberfläche schwelen sie weiter. Dazu gehören der Siedlungsbau im annektierten Ostteil und das krasse soziale Gefälle zwischen dem jüdischen und arabischen Jerusalem. Solange Netanjahu regiert, ist hier keine Entspannung zu erwarten.

Die „Jerusalemer Intifada“ hat die unsichtbare Teilungslinie in dieser Stadt, die vorgeblich „auf ewig vereint“ ist, nur wieder bewusster gemacht. Aber was derzeit im Kosmos dieser „heiligen Stadt“ passiert, ist eine Warnung an alle, die glauben, ohne politische Lösung auskommen zu können. Das binationale Jerusalem führt Israelis und Palästinensern vor, wie es sein wird, wenn es keine Zweistaatenlösung gibt.