Der Zauberer wird zum Buhmann: Nach dem verlorenen Spiel im EM-Halbfinale gegen Italien erlebt Joachim Löw eine Zäsur – und muss jetzt zeigen, dass er ein Kämpfer ist, kommentiert Marko Schumacher.

Stuttgart - Mit ausgebreiteten Händen war Joachim Löw vor einigen Tagen fast ganzseitig im Sportteil von Deutschlands größter Boulevardzeitung abgebildet. Er sah aus wie ein Messias. Ein Wissenschaftler analysierte „die Wunderhände“ des Bundestrainers, der die deutsche Elf ins Halbfinale der EM geführt hatte und kurz davor schien, in den Heiligenstand erhoben zu werden. Am Tag des Endspiels, an dem das deutsche Team gestern dann doch nicht teilnehmen durfte, räumte das Boulevardblatt Löw erneut viel Platz ein, diesmal sogar die gesamte Titelseite. Von magischen Kräften jedoch war nicht mehr die Rede – die Schlagzeile lautete: „Kann man noch an Jogi glauben?“

 

Es ist ein beispielloser Vorgang: Ein einziges verlorenes Spiel hat gereicht, um das grenzenlos scheinende Vertrauen in Joachim Löw in den Grundfesten zu erschüttern. Aus dem unantastbaren Liebling der Nation ist über Nacht ein normaler Fußballtrainer geworden, den bisher nicht gekannte Zweifel der Öffentlichkeit begleiten. Die 1:2-Halbfinalniederlage gegen Italien wird Löw lange nachhängen, es teilt seine Arbeit in ein Davor und ein Danach.

Das Davor, das waren die sechs Jahre, in denen der Weg immer weiter nach oben geführt hatte und die Spielweise der Mannschaft immer schöner geworden war. Platz zwei belegte die DFB-Auswahl bei der EM 2008, Platz drei bei der WM 2010. Als ausgemachte Sache galt es, dass dieser Weg fast zwangsläufig zu einem Titel führen würde. Und es bestand kollektive Einigkeit darin, dass Joachim Löw der bestmögliche Trainer für diese Mannschaft ist.

Der große Zauber ist verflogen

Im Danach muss er damit leben, dass der große Zauber vorerst verflogen ist. Aufgrund seiner rätselhaften Aufstellung im Spiel gegen Italien gilt Löw als Hauptverantwortlicher dafür, dass es wieder nicht gereicht hat. Der Bundestrainer muss davon ausgehen, dass er künftig unter einer kritischeren Beobachtung stehen wird. In der Deckung waren bisher jene geblieben, die mit Argwohn beobachtet hatten, wie sich die Nationalmannschaft verselbstständigt und den Anschein erweckt hatte, viel besser als alle anderen zu wissen, wie man attraktiv und gleichzeitig erfolgreich spielen kann. Diese Fraktion aus Liga und Verband hat jetzt Oberwasser – und wird auf weitere Ausrutscher lauern.

Die Debatte, die über Joachim Löw nach einem verlorenen Spiel geführt wird, mag teilweise polemisch sein und auch ungerecht. Schließlich kann niemand sagen, ob das deutsche Team mit einer anderen Aufstellung gegen die starken Italiener gewonnen hätte. Doch gehören solche Diskussionen dazu, wenn es um das wichtigste Traineramt Deutschlands geht. Joachim Löw muss die Kritik aushalten, so wie er die hymnische Verehrung genossen hat, die ihm zuvor zuteil geworden ist.

Völlig falsch jedoch wäre es, die gesamte Arbeit des Bundestrainers infrage zu stellen – keineswegs nur, weil niemand verfügbar ist, der geeigneter erschiene. Joachim Löw, daran besteht weiterhin kein Zweifel, hat in den vergangenen sechs Jahren hervorragende Arbeit geleistet. Er bleibt der richtige Mann, um mit seiner jungen Mannschaft bei der WM 2014 in Brasilien einen neuen Anlauf zu nehmen, den ersten Titel seit 1996 zu gewinnen. Und die richtige Vorgehensweise war es von Wolfgang Niersbach, dem Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), seinem wichtigsten Angestellten unmittelbar nach dem Scheitern den Rücken zu stärken.

Als begnadeter Analytiker und Taktikfuchs hat Joachim Löw bisher immer gegolten. Nun, da ihm der Wind erstmals von vorne ins Gesicht weht, muss er zeigen, dass sein Repertoire noch mehr umfasst. Nun kann der Bundestrainer unter Beweis stellen, dass er auch über jene Eigenschaft verfügt, die einige seiner Spieler im entscheidenden Moment dieses Turniers haben vermissen lassen: Kampfgeist.