Es ist verführerisch, den Terror zu dämonisieren. Dann hat er mit uns nichts zu tun, meint Katja Bauer. In Ihrem Kommentar fordert sie ein breites Bewusstsein für den alltäglichen Rassismus in der Gesellschaft.

Berlin - Eine Schande für unser Land – so hat die Bundeskanzlerin genannt, was dieses ganze Land sich so lange nicht vorstellen konnte. Dass dies möglich ist: eine Truppe junger Leute, die sich politisch am rechten Rand unter den Augen von Lehrern, Eltern, Freunden radikalisiert, die untertaucht und die Republik mit Terror überzieht. Zehn Menschen, die deshalb sterben müssen, Angehörige, die ihre Nächsten verlieren und dann vom Staat, der sie verdächtigt, noch einmal zum Opfer gemacht werden. Ein vielarmiger Ermittlungsapparat, der immer nur ins Leere greift, weil er mal blind ist, mal wegsieht, wo man – wie man nun weiß – hätte etwas sehen müssen. Aus Angela Merkels Worten bei der Gedenkfeier am Gendarmenmarkt sprach nicht nur Betroffenheit. Die Kanzlerin formulierte zugleich eine bittere Erkenntnis für jeden von uns. Es hat ihn gegeben, den blinden Fleck nicht nur im staatlichen Apparat, sondern auch im kollektiven Bewusstsein, und es gibt ihn weiterhin.

 

Die Politik sprach von Einzeltätern

Über so viele Jahre, über so viele Taten, über so viele Landtagswahlen mit entsprechenden Ergebnissen hinweg – immer dieselben Reaktionen: Natürlich erschrak sich die Zivilgesellschaft, wenn Asylbewerberheime brannten, und organisierte Lichterketten. In den Ritualen der Betroffenheit ist gerade dieses Land schließlich sehr geübt. Die Politik sprach allerdings von irregeleiteten Einzeltätern. Natürlich war man schockiert, als die NPD in Sachsen Wahlergebnisse hatte, die denen der SPD nicht sehr hinterherhinkten. Aber schnell wurde dazu aufgerufen, dies nicht überzubewerten, die Protagonisten am besten mit Ignoranz zu strafen und vor allem bitteschön als Tourist weiterhin in die Sächsische Schweiz zu reisen. Natürlich nimmt man diese leicht gruseligen Alltagsschilderungen aus dem irgendwie so fernen Osten des Landes zur Kenntnis: junge Leute, die am Wochenende den Hitlergruß zeigen, Schulhof-CDs mit ein bisschen Volksverhetzung in der großen Pause und die Jugendorganisation der NPD, die freundlich Hausaufgabenhilfe anbietet.

Die Terroristen sind Kinder der Gesellschaft

Aber hat sich die Sicht der Gesellschaft seit dem 4. November 2011 geändert? Vier Untersuchungsausschüsse erwerben sich tatsächlich Meriten bei der Aufklärung und richten unerbittlich den Blick auf ein beispielloses Versagen der Sicherheitsbehörden. Staunend blickt man als ganz normaler Bürger auf diesen Apparat, dem man doch, trotz Vorbehalten, irgendwie im Kern vertraut hat. Ansonsten? Der Alltag ist zurückgekehrt, und außer an Gedenktagen kümmert uns der „NSU“ heute wenig. Denn wir haben uns auf einen gefährlichen gesellschaftlichen Konsens geeinigt: Die Nazis – das sind immer die anderen. Erst gerade eben hat der Jenaer Bürgermeister kritisiert, dass der Name seiner Stadt „in einem Atemzug“ mit dem „NSU“ genannt werde. Es handele sich lediglich um „braune Flecke“ auf einem bunten Tuch.

Das Terrortrio bietet sich besonders an zur Dämonisierung – wer sich Menschen aussucht, sie abknallt und Filmchen mit dem Rosaroten Panther darüber dreht, der offenbart eine Menschenverachtung, dass einem der Atem stockt. Aber Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe sind Kinder dieser Gesellschaft. Rechtsextreme Jugendkultur war zu ihrer Zeit in Thüringen nichts Exotisches, sondern ein Alltagsphänomen. Sie hatten ein gesellschaftliches Umfeld, sie hatten Nachbarn, Freunde, Helfer. Wenn wir den „NSU“ nicht dämonisieren, können wir etwas lernen – als Nachbarn, Bürger, Freunde und manchmal vielleicht auch als kleine Rassisten des Alltags. Wir alle kennen das: Wir halten den Mund, wenn ein netter Bekannter am Tisch eine fiese Bemerkung über die Türken im Allgemeinen macht. Vielleicht lachen wir gar ein bisschen mit, aus Höflichkeit. Wir schauen weg, statt hin, weil es anstrengend werden könnte. Und eigentlich ja nicht so schlimm ist – oder doch?