Die Erinnerung an die Anschläge des 11. September zeigt, wie schnell ein Weltbild untergeht, meint StZ-Kulturchef Tim Schleider.
Stuttgart - Die Anschläge vom 11. September 2001bleiben präsent. Die Bilder der einstürzenden Twin Towers in New York sind uns allen ins Gedächtnis gebrannt. Jeder weiß, wo, wann und unter welchen Umständen er sie an jenem Tag das erste Mal auf welchem Bildschirm gesehen hat. Aber was genau haben diese Bilder in uns verändert, in unserem Lebensgefühl, in unserem Verhältnis zur Politik?
Man muss stets vorsichtig sein mit den Titeln für ganze Jahrzehnte. Weder waren die "goldenen Zwanziger" für alle Menschen golden, noch die "muffigen Fünfziger" durch und durch verstaubt. Solche Mottos sind immer nur der Versuch, einen bestimmten Zeitgeist auszudrücken. Was jedenfalls die 90er Jahre im damals frisch vereinten Deutschland angeht, so fällt uns im Rückblick für diese Zeit schnell ein ebenso starkes Adjektiv ein: energisch.
Eine ganze Reihe von Problemen schienen für immer gelöst. Der Kampf zwischen West und Ost, die Gefahr eines großen Atomkriegs: abgehakt. Das skandalöse Apartheidregime in Südafrika: abgehakt. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina: nie schien eine Lösung so nah wie in diesem Jahrzehnt. Der ewige Kanzler Helmut Kohl: 1998 zugunsten eines rot-grünen Reformprojektes abgewählt.
"Global" - das klang einmal verheißungsvoll
In der Kultur, in der Mode, auf den Magazinseiten der Medien - überall ein großes Spiel mit Themen, Farben, Formen. In den neunziger Jahren wurde in Berlin aus einem kleinen Musikumzug ein Massenphänomen namens Love Parade. Der Poptitel der Neunziger mit den meisten Coverversionen: "Forever young". Die drei James-Bond-Filme der Neunziger: "Golden Eye", "Der Morgen stirbt nie", "Die Welt ist nicht genug". Der beliebteste Werbespruch: "Nichts ist unmöglich."
Selbst die sehr schlechten Nachrichten des Jahrzehnts schienen sich in diese Weltsicht einzufügen. Die schrecklichen Bürgerkriege auf dem Balkan - was waren sie anderes als ein verspätetes Aufbäumen jenes Uraltdämons namens Nationalismus? Erst das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft bereitete dem Wahnsinn ein Ende.
War das nicht eine klare Ansage, wie die letzten Aufgaben der Politik zu bewältigen waren? Bekam so nicht sogar das Militär sein Gutes? War nicht klar, dass dieses neue Medium namens Internet ohnehin alle Grenzen obsolet machen würde? War nicht sagenhaft, wie diese neuen, weltumspannenden Technologien pünktlich zum magischen Jahr 2000 der Weltökonomie zum Höhenflug verhalfen, und der Wohlstand für alle damit zum Greifen nah schien? "Global" - das klang einmal verheißungsvoll.
Die Vernunft ist alternativlos
Mit dem Fall der Mauer 1989 hatte dieses Jahrzehnt begonnen. Mit dem Fall zweier Türme in New York war es unwiderruflich zu Ende. In den Jahren dazwischen schien die Zukunft im Detail offen, aber sicher. In den Jahren danach schien nichts mehr sicher. Nicht, dass es in den zehn Jahren von "Nine-Eleven" bis heute so gar keine guten Nachrichten gegeben hätte, keine politischen Erfolge, keine Phasen ökonomischen Aufschwungs, keine kulturellen Höhepunkte.
Aber bevor wir uns darüber freuen, kneifen wir uns lieber in den Arm: Denk dran, es ist tatsächlich gar nichts unmöglich! Alles kann passieren! Zuletzt die Bilder einer Rauchwolke über einem scheinbar perfekten Atomkraftwerk in Japan, zu allerletzt die Bilder vom Massenmord in Norwegen: auch das ist jetzt eingetroffen.
Wer vor dem 11. September dachte, die Zukunft kommt von selbst, der wusste danach: von selbst und mit Macht kommt nur der Schock - angesichts des Einsturzes zweier Türme und eines Weltgebäudes aus trügerischer Selbstgewissheit. Wenn es eine Lehre gibt aus der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts, dann wohl diese: Ist der Überschwang der Euphorie erlahmt, bleibt uns Menschen nur die stete Kraft der Vernunft. Nur sie und sonst nichts ist alternativlos. Ist unser Lebensgefühl inzwischen so weit? Jedenfalls wird es Zeit dafür.