Die Grünen sind zurück im Bündnis der Stuttgart-21-Gegner. Das ist ein Problem für die Regierungspartei. Ein Kommentar von Holger Gayer.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Winfried Kretschmann dürfte nicht erfreut gewesen sein, als er erfuhr, was das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 zu verkünden hatte. Der Zusammenschluss der Tiefbahnhofgegner hat ein neues Sprecherquartett. Es besteht aus dem Juristen Eisenhart von Loeper, der Ärztin Friederike Perl, dem Bauhistoriker Norbert Bongartz und – ausgerechnet – einer Stadträtin der Grünen: Clarissa Seitz.

 

Damit manifestiert sich, was sich in den vergangenen Wochen abgezeichnet hat: Es geht ein tiefer Riss durch die Grünen in Stuttgart. Da ist einerseits die Regierungspartei, angeführt vom Ministerpräsidenten, der Stuttgart 21 nach dem Volksentscheid nicht nur akzeptieren, sondern sogar fördern muss. Er tut das gegen seine innere Einstellung dem Projekt gegenüber, aber aus der Überzeugung heraus, dass der Souverän final entschieden hat und der Regierungschef dieses Votum umsetzen muss. Mit dieser Haltung respektiert Kretschmann sein Amt und gewinnt Ansehen bei denen, die den Grünen die Regierungsverantwortung nicht zugetraut haben.

Andererseits aber wächst speziell in der Landeshauptstadt der Unmut der grünen Urklientel, die fassungslos registriert, dass nun ausgerechnet einer der Ihren jenes Projekt vorantreibt, das sie gemeinsam so vehement bekämpft haben. Auch sie haben zwar die Volksabstimmung gefordert, wissen nun aber nicht, adäquat mit dem Ergebnis umzugehen. An vielen Jacken prangt nach wie vor die Parole „Oben bleiben“. Doch oben bleiben geht nicht mehr.

Akzeptiert Fritz Kuhn den Volksentscheid

Diese Gemengelage ist – zumal vor dem Hintergrund des OB-Wahlkampfs in Stuttgart – schwierig für die Grünen. Gehen ihre Protagonisten in der Landeshauptstadt in Opposition zu ihrem eigenen Ministerpräsidenten, schwächen sie ihr kräftigstes Zugpferd. Kuscheln sie aber mit dem Herrn aus der Villa Reitzenstein, könnten ihnen viele Stammwähler davonlaufen. Doch das sind letztlich nur wahltaktische Erwägungen. Dahinter türmt sich ein viel größeres Thema auf; es kulminiert in der Frage: Wie glaubwürdig sind die Grünen – in die eine und in die andere Richtung?

Clarissa Seitz hat ihre Entscheidung getroffen. Die grüne Stadträtin will sich als Sprachrohr der S-21-Gegner profilieren; sie wird sich nicht scheuen, auch dem Regierungschef die Meinung zu sagen. Wie hanebüchen sie diese bisweilen formuliert, hat sie gezeigt, als sie den Abriss des Nordflügels mit „der Zerstörung der einzigartigen Buddha-Statuen im Tal von Bamiyan in Afghanistan durch rückwärtsgewandte, militante Taliban“ verglichen hat.

Entscheidend wird nun sein, wie ernst der designierte OB-Kandidat der Grünen den Willen der Bürger nimmt. Akzeptiert Fritz Kuhn den Volksentscheid? Schließt er sich der Oben-bleiben-Fraktion an? Oder versucht er beides zu kombinieren und auf dem Weg zur Wahl ein bisschen schwanger zu werden? Die Einladung zur Bewerbung um das zweitwichtigste Amt im Land hat er aus der Villa Reitzenstein erhalten. Ministerpräsident Kretschmann will ihm jede Unterstützung gewähren. Bald wird Fritz Kuhn sagen müssen, ob er dieses Versprechen als Segen empfindet. Oder als Fluch.