Die Bauarbeiten für Stuttgart 21 ruhen - das Moratorium trägt zur Beruhigung der Auseinandersetzung bei, meint StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs.  

Chefredaktion: Joachim Dorfs (jd)

Stuttgart - Morari ist lateinisch und heißt zögern. Das davon abgeleitete „Moratorium“ hat beste Chancen, im politischen Wörterbuch des Jahres 2011 ganz oben zu stehen. Nach der Katastrophe von Fukushima hat Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Atom-Moratorium zum „Innehalten“ in der Energiefrage verkündet. Seit Dienstag herrscht nun auch – von kleineren Arbeiten abgesehen – ein Stuttgart-21-Moratorium, das im Bahndeutsch „Bau- und Vergabestopp“ heißt. Es soll bis zur Übernahme der Amtsgeschäfte durch die neue grün-rote Landesregierung gelten, vermutlich also bis Mitte Mai.

 

Man muss kein großer Prophet sein, um vorherzusagen, dass es damit nicht getan sein wird. Ehe nicht die Ergebnisse des sogenannten Stresstests zu Stuttgart 21 vorliegen, wird die Bahn kaum wieder mit Ausschreibungen oder Bauarbeiten beginnen. Die Arbeiten ruhen also nicht nur sechs Wochen, sondern eher bis in den Juni oder gar Juli hinein, was die Kosten für das Bahnprojekt erneut um einen vermutlich zweistelligen Millionenbetrag erhöhen wird.

Trotzdem ist es vernünftig, keine weiteren Fakten zu schaffen, sondern allen Beteiligten Gelegenheit zum Nachdenken und zur Neupositionierung zu geben, nachdem sich die landespolitischen Koordinaten in Sachen Stuttgart 21 am Sonntag dramatisch verschoben haben. Gegen den Widerstand einer – in dieser Frage uneinigen – Landesregierung wird die Bauherrin Bahn kaum ein Milliardenprojekt durchsetzen können. Dies gilt umso mehr, falls nach dem Stresstest teure Nachbesserungen drohten, die die Projektpartner zusätzlich finanzieren müssten. Andererseits wird die Bahn auch nicht nolens, volens aus einer Infrastrukturmaßnahme aussteigen, die sie für sinnvoll erachtet und für die bereits hohe Kosten angefallen sind – von den ungewissen Alternativen einmal ganz zu schweigen.

Die Zeichen stehen auf Pragmatismus und Deeskalation

Auf informellen Wegen suchen die Träger von Stuttgart 21 bereits im direkten Kontakt nach Auswegen aus der verfahrenen Situation. Die gute Nachricht ist: kurz nach der Wahl stehen die Zeichen bei den Verantwortlichen auf allen Seiten offenbar erst einmal auf Pragmatismus und Deeskalation. Das Moratorium gibt zudem der sich konstituierenden Landesregierung die Möglickeit, eine einheitliche Position zu dem umstrittenen Bahnhofsprojekt zu suchen. Es wird die erste und wohl gleich auch größte Bewährungsprobe für Grün-Rot in Baden-Württemberg sein.

Allerdings wird es den Koalitionären schwer fallen, die Erwartungshaltung ihrer Wähler zu befriedigen. Die SPD hat ihren Anhängern einen Volksentscheid versprochen, um Stuttgart 21 durchzusetzen. Doch der ist auf Landesebene nach heutigem Recht verfassungsrechtlich problematisch und außerdem für den Verlierer politisch extrem heikel. Die Grünen möchten das Projekt auf jeden Fall kippen, ob mit oder ohne Bürgerentscheid. Insofern verwundert es nicht, dass nicht nur Kretschmann, sondern auch Grünen-Chef Cem Özdemir die Notwendigkeit eines solchen Plebiszits schon relativiert haben. Das freilich ist für die SPD kaum tolerabel, zumal sich das Ergebnis der Landtagswahl sicher nicht als Votum gegen Stuttgart 21 deuten lässt.

Um die Neuordnung des Bahnknotens Stuttgart und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm beginnt nun erneut ein großes Pokerspiel. Unstrittig ist, dass ein einseitiger Ausstieg eines Projektpartners Regressforderungen in Milliardenhöhe nach sich ziehen kann. Der Bund, darauf wies Verkehrsminister Peter Ramsauer sehr ruppig hin, findet auch andere Verwendungen außerhalb Baden-Württembergs für seine Infrastruktur-Gelder. Umgekehrt ist die Bahn auf die Kooperation der Projektpartner und vor allem des Landes angewiesen. Wenn die Zeichen nicht täuschen, beginnt in diesen Tagen auf allen Ebenen die Suche nach einem Konsens. Doch bis er gefunden ist, bleiben die Poker-Karten auf dem Tisch.