Man sollte den Eurovision Song Contest nicht überhöhen, sondern als musikalischen Spaß sehen, fordert der StZ-Redakteur Jan Ulrich Welke.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Deutschland sucht seine Superstars, seine nächsten Topmodels, seine begabtesten Talente und seine besten Stimmen. In Dutzenden von Castingshows in ebenso vielen verschiedenen Fernsehsendungen messen sich die Möchtegernsternchen von morgen und erniedrigen sich in zermürbend ausufernden Vorentscheidungssendungen. Und das nicht nur in Deutschland: einige der Castingshows sind Formate, die nach dem gleichen Strickmuster auch in vielen anderen europäischen Ländern über die Bildschirme flackern. Inflationär ist mittlerweile die Zahl dieser Shows, der nationale deutsche Song-Contest-Vorentscheid „Unser Star für Baku“ ist auch dadurch ein wenig in den Windschatten geraten.

 

Unbeeindruckt von diesen Verteilungskämpfen um Quoten und Moneten steht nur die Mutter aller Unterhaltungswettbewerbe da. Der Eurovision Song Contest ist nach wie vor die größte Unterhaltungsshow der Welt, lediglich bei den Fußball-Weltmeisterschaften und den Olympischen Spielen sitzen mehr Menschen einig vor dem Fernseher – rund 150 Millionen Zuschauer werden es am Samstagabend wieder weltweit sein.

Seine Tradition macht den Reiz des ESC aus

Wie kommt’s? Der Reiz des Events liegt gewiss nicht darin, dass hier die besten Künstler Europas gegeneinander antreten. Es geht nicht darum, verbissen eine nationale Ehre verteidigen zu müssen. Und es ist auch nicht so, dass die Gewinner als gemachte Leute die Halle in Baku verlassen werden: der Sieg beim Song Contest ist undotiert, und er hat schon weitaus mehr Sänger in der Normalität verschwinden lassen, als dass er Stars wie Abba oder Cliff Richard hervorgebracht hätte. Man denke nur an Lena Meyer-Landrut, vor zwei Jahren noch die Heldin von Oslo, die mittlerweile in Ruhe in Köln ihr Studium aufgenommen hat.

Der Reiz ist vielmehr in der Tradition dieses mehr als ein halbes Jahrhundert alten Rituals begründet, das viele Menschen noch immer nach seiner früheren Bezeichnung „Grand Prix“ nennen. Er rührt daher, dass der strahlende Gewinner der Show wie in jedem Jahr leidlich unvorhersehbar ist, dafür allerdings schon nach wenigen Stunden feststeht, frei gewählt von Europas Popfans.

Für politische Ranküne nicht geeignet

Und er bezieht seinen Charme daraus, dass die Siegernation stets den kommenden Song Contest ausrichten darf, also (nahezu) jedes Jahr ein anderes europäisches Land die Gelegenheit bekommt, sich der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Mit all seinen Licht- und Schattenseiten übrigens: hätten Weißrussland oder Israel, die beide im Halbfinale ausgeschieden sind, gewonnen, wäre der nächste Contest in diesen Ländern ausgetragen worden; und wer ob des Austragungslands Aserbaidschan – zu Recht – die Nase rümpft, muss sich auch fragen lassen, wie weit die persönliche Empörung 2005 beim Song Contest in der Ukraine gereicht hat.

Der Eurovision Song Contest eignet sich für politische Ranküne genauso wenig wie die Olympischen Spiele. Man muss ihn auch nicht als Gelegenheit für Europas Kulturnationen überhöhen, stolz ihr Erbe auszustellen. Er ist ein harm- und argloser musikalischer Spaß der kleinen Sehnsüchte und großen Gefühle, geprägt von der Freude an einem bisschen Frieden, dem Vergnügen sowohl an den notorischen schrägen Vögeln und schrillen Gestalten wie auch den teils wirklich guten künstlerischen Darbietungen und einem fairen paneuropäischen Sangeswettstreit.

Es ist ein Ringen, bei dem sich das stets geschäftige Europa ausnahmsweise einmal ein paar Stunden lang nicht an Zinsniveaus, politischer Handlungsfähigkeit und Bruttoinlandsprodukten reiben muss, sondern sich im künstlerischen Wettstreit an einem ebenso wichtigen gesellschaftlichen Renditefaktor ergötzen darf: der identitätsstiftenden Kultur des einträchtigen Beieinanderseins. Und diese Kultur kann Europa derzeit mehr denn je gut gebrauchen.