Die Europäische Union hat den Friedensnobelpreis verdient. Aber er ist Anerkennung und Mahnung zugleich. Die EU muss sich dringend reformieren und eine neue Vision entwickeln, meint unser Kommentator Rainer Pörtner.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart - Die Europäische Union wird also mit dem Friedens-Nobelpreis ausgezeichnet. Vielleicht ist die Überraschung über diese Ehrung ausgerechnet bei vielen Menschen groß, die in dieser Union leben. In Zeiten, in denen die Erfolge und Misserfolge nur noch in Euro und Cent gemessen werden, gelten die politischen und historischen Gewinne Europas in seinem Innern vielerorts als nebensächlich, bestenfalls als selbstverständlich.

 

Die nun bereits seit Jahren schwelende Eurokrise, die mit ihr verbundenen Ängste vor einem Crash der gemeinsamen Währung, vor Jobverlust und Geldentwertung, auch die Renaissance nationalistischer Stimmungen prägen die Alltagswahrnehmung. Die Tatsache, dass mit dem technokratischen Kürzel „EU“ die längste Friedensperiode im Kern Europas seit Menschengedenken verbunden ist, gerät dabei in den Hintergrund. Im notwendigen Gezerre um Sparprogramme, Rettungsschirme und die Sinnhaftigkeit von Energiesparlampen-Verordnungen ist den EU-Bürgern die Wertschätzung ihrer eigenen Gemeinschaft abhandengekommen.

Die Auszeichnung mit dem Nobelpreis ist auch ansonsten nicht ohne Pikanterie. Sie kommt aus Norwegen – einem Land, dessen Bürger zweimal den Beitritt zur Europäischen Union ablehnten. Die Mitglieder des Nobelpreiskomitees werden sich deshalb der real existierenden Unzulänglichkeiten der EU sehr bewusst sein. Dennoch halten sie die Union für preiswürdig. Ein Indiz, dass womöglich die Verdienste der EU gerade von außen mit klarerem Blick gesehen werden als von innen.

Ein Nationenbund neuer Form

Nie wieder Krieg! – Dieses Credo ist das eigentliche Gründungsmotiv für die Gemeinschaften gewesen, die schlussendlich in die heutige Europäische Union führten. Die Gründungsväter waren überzeugt: nur durch ein vereintes Europa wird dauerhaft Frieden auf einem Kontinent einkehren, von dem aus zweimal die Welt in Brand gesetzt wurde.

Das Überführen der klassischen Nationalstaaten in einen Nationenbund historisch neuer, unerprobter Form hat die Überwindung der deutsch-französischen Erzfeindschaft ermöglicht. Sie hat die Demokratisierung vormals diktatorischer Länder wie Griechenland, Spanien und Portugal unterstützt. Sie hat den Fall der Mauer wie die Rückkehr der Polen, Tschechen und Letten in die europäische Familie befördert. Sie wirkt stabilisierend auf den Balkan, auf dem zum Abschied des 20. Jahrhunderts aufblitzte, wie schnell der Krieg nach Europa zurückkehren kann. Das ist eine Bilanz, die wahrlich eines Friedens-Nobelpreises würdig ist.

Was fehlt? Eine europäische Identität

Die Ehrung drückt Anerkennung aus, sie soll aber auch mahnen und ermutigen – denn sie erreicht die Union im Moment ihrer bisher größten Krise. Der deutsche Altkanzler Helmut Kohl hat kürzlich angesichts der Währungs- und Schuldenprobleme gewarnt: „Europa bleibt eine Frage von Krieg und Frieden. Die bösen Geister der Vergangenheit sind keineswegs gebannt, sie können immer wieder zurückkommen.“ Die EU wie ihre Mitgliedstaaten müssen ihre ökonomischen und fiskalischen Probleme in den Griff bekommen, wenn die Union weiterhin friedensstiftend wirken soll. Die Gemeinschaft muss ihre innere Zerrissenheit überwinden, ihre Institutionen reformieren und ihre Vision erneuern, wenn sie nicht zerfallen soll.

Die Skepsis der Europäer gegenüber „Mehr Europa!“ ist groß – besonders groß ausgerechnet in Deutschland, das als starke Macht in der Mitte des Kontinents weit mehr als andere auf gute Nachbarschaften angewiesen ist. Selbst nach sechzig Jahren haben die EU-Bürger keine europäische Identität entwickelt. Dies ist der Kern der aktuellen Misere. Vielleicht hilft der Stolz auf den Friedens-Nobelpreis, der alle 500 Millionen EU-Bürger ehrt, diese Identität zu entwickeln.