Die Kämpfer des „Islamischen Staats“ verüben im Nordirak einen Völkermord. Deshalb wären die Vereinten Nationen gefordert. Doch die Realpolitik steht dem entgegen, kommentiert der StZ-Redakteur Stefan Geiger.

Stuttgart - Kein Zweifel, im Norden des Irak findet ein Völkermord bereits statt, er droht nicht erst. Das gilt jedenfalls, wenn man das Völkerrecht als Maßstab nimmt. Nach der Definition der UN-Konvention, die sich inzwischen wortgleich im deutschen Gesetz findet, gilt nicht nur jede Tötung als Völkermord, sondern auch Folter oder Verhungernlassen, wenn diese Taten verübt werden, um eine Gruppe „ganz oder teilweise zu zerstören“. Gemeinsamkeiten dieser Gruppe können Religion, Nationalität, Rasse oder Volkstum sein. Auf die Zahl der Getöteten, der Gefolterten, der Verhungerten kommt es nicht an.

 

Die Dschihadisten im Irak haben öffentlich erklärt, Menschen anderen Glaubens müssten vor ihnen entweder weichen, zu ihrem Glauben übertreten oder sie würden getötet. Sie haben sich selbst also des Völkermords bezichtigt. Hinzu kommt: die Opfer im Nordirak sind den Tätern unterlegen und deshalb ausgeliefert; sie können sich kaum wehren. Dies macht das Verbrechen noch abscheulicher.

Die Täter prahlen mit ihren Terrorakten

Der Völkermord im Nordirak erregt uns auch deshalb so, weil die Täter damit prahlen. Das unterscheidet sie von fast allen anderen Völkermördern, die versucht haben, das Ausmaß ihrer Untaten nach außen hin zu verharmlosen und zu verschleiern. Die Dschihadisten aber stellen Fotos, auf denen sie oder auch ihre Kinder die Köpfe der von ihnen Enthaupteten hochhalten, ins Internet. Man muss diese Fotos selbst gar nicht gesehen haben, es genügt die Beschreibung, um in aller Welt das auszulösen, was die Täter beabsichtigen: Abscheu und Entsetzen, aber auch ein Überschätzen der Macht und der Chancen dieser Verbrecher. Rund 300 000 Menschen befinden sich vor ihnen auf der Flucht. Wie viele Opfer sie bereits getötet haben, ist unbekannt. Die UN schätzten ihre Zahl bereits Anfang Juli auf mehr als 1000. Dazu muss man wissen, dass im Irak 2013, also vor den aktuellen Kämpfen, 9500 zivile Opfer von Anschlägen gezählt wurden, ohne dass dies außerhalb des Landes großes Aufsehen erregt hätte.

Unsere Wahrnehmung menschlichen Unrechts und menschlichen Elends ist selektiv. In einer anderen aktuellen Katastrophenzone, im Südsudan, befinden sich mehr als 400 000 Menschen auf der Flucht, dort wurden binnen zwei Tagen nach unterschiedlichen Schätzungen bis zu 10 000 Menschen getötet, es droht eine Hungersnot, die Überlebenden vegetieren in überschwemmten Lagern. Dort geht es   um Auseinandersetzungen zwischen Volksstämmen. Es ist ein Bürgerkrieg. Aber auch dort sind die Kriterien des Völkermords – so wie sie in den Gesetzbüchern stehen – erfüllt. Die Welt schaut zu.

Es gibt keinen gerechten Krieg

Die Entwicklung des Völkerrechts ist rasant, sie eilt der Wirklichkeit voraus. Die Ächtung des Völkermords ist ein Teil dieser Entwicklung. Das Völkerrecht ist wichtig und hilfreich. Wir sollten es hegen. Aber wir müssen uns klarmachen, dass das Völkerrecht immer noch überlagert wird von den Machtverhältnissen, von den Interessen, auch den wirtschaftlichen Interessen der Staaten – kurzum von den Möglichkeiten der Realpolitik in dieser Welt.

Zum geschriebenen Völkerrecht gehört übrigens auch, dass allein die UN das Recht haben sollen, Krieg zu führen, um Frieden zu schaffen. Davon ist gegenwärtig kaum die Rede. Dabei wäre es überfällig, dass die UN aktiv werden im Irak, auch unter deutscher Beteiligung. Zu viele Interessen stehen aber dagegen. So hart es ist, so sehr das Gerechtigkeitsgefühl aufschreit: Außerhalb der UN sollte sich Deutschland nicht an militärischen Auseinandersetzungen beteiligen, auch nicht gegen Völkermörder, auch nicht durch Waffenlieferungen. Selbst dann nicht, wenn die Machtverhältnisse so ungleich sind wie im Nordirak. Wir haben weder die Kraft noch die Legitimation für eine solche Militäraktion. Und niemand weiß, was danach kommt. Es gibt keinen gerechten Krieg. Jedenfalls fast keinen.