Die Kämpfer des „Islamischen Staats“ sind im Nahen Osten auf dem Vormarsch. Die Terroristen haben ihre historische Chance genutzt, kommentiert der StZ-Redakteur Dieter Fuchs. Sie fordern nun den gesamten Islam heraus.

Seite Drei: Dieter Fuchs (fu)

Stuttgart - Militärisch ist das Terror-Kalifat in Mesopotamien keine Gefahr für den Westen. Selbst wenn man die jeweils höchsten Zahlen heranzieht, die kursieren – rund 50 000 Kämpfer, Militärmaterial von vier Divisionen, eine Millionenstadt unter Kontrolle –, ihm fehlt die Luftwaffe. Trotzdem könnte der „Islamische Staat“ (IS) die Weltpolitik in Zukunft mitbestimmen. Denn seine Anziehungskraft ist groß. Sie speist sich aus zwei Quellen: eine für viele attraktive Ideologie und die Machtvakuen in der arabischen Welt.

 

Die Wurzeln des IS reichen zurück in die Zeit des Irakkrieges 2003. Spätestens 2006 ist dort eine Terrorgruppe aktiv geworden, die als Vorläuferorganisation gilt – damals eine Fanatikergruppe unter vielen. Erst der syrische Bürgerkrieg hat dem IS zum Durchbruch verholfen. Der Kampf der rebellischen freien syrischen Armee gegen das Assad-Regime ermöglichte dem IS seit Anfang 2012, Waffen, Munition und Territorium zu erobern. Anfangs wurde der „Islamische Staat“ unterstützt von Förderern aus den Öl-Staaten, die Assad stürzen wollten, meist wohl aus Saudi-Arabien. Doch rasch wuchs die Macht des IS in gleichem Maße wie die Schwäche der Rebellen, deren Nachschub stockte. Allein durch den Ölschmuggel in die Türkei soll der IS 800 Millionen Dollar eingenommen haben. Hinzu kamen Hunderte Millionen Dollar durch den Handel mit Geiseln. Das Assad-Regime konzentrierte seine Kräfte auf die gemäßigten Rebellen, die Türkei ließ als Gegner Assads Material und Kämpfer über die Grenze, und Geld hatte der IS bald genug.

Dem Islamischen Staat laufen die Partner zu

Seit der IS zu einer Größe gewachsen ist, geeignet, um in einer Allianz die Lücken im arabischen Machtgefüge zu füllen, laufen ihm die Partner zu. Viele sunnitische Stämme des Irak verbündeten sich 2013 mit ihm. Immer mehr gemäßigte Rebellen in Syrien wechseln die Fahne, weil die freie syrische Armee zunehmend auf verlorenem Posten steht. Sunniten im Libanon, die ein Gegengewicht zur schiitischen Hisbollah suchen, liebäugeln jetzt mit einem IS-Bündnis ebenso wie Dschihadisten in Libyen, die so auf Geld und Kämpfer hoffen, um im Bürgerkrieg dort das Blatt zu wenden. Nicht zuletzt zahlt der IS mit den besten Sold in der Region. Keiner dieser Konflikte ist neu. Immer geht es, teils seit Jahrzehnten, um einen innerislamischen Machtkampf, meist entlang der Konfessionsgrenzen. Viele Kämpfer wechseln nur die Symbole. Dies ist der 30-jährige Krieg des Islam.

Neu und gefährlich ist, dass der IS seinen Territorialgewinn mit einer ausgesprochen attraktiven Ideologie verknüpfen kann. Sein „Kalifat“ zwischen Damaskus und Bagdad spielt auf muslimische Großreiche an, die von Andalusien bis nach Indien reichten und von eben jenen beiden Städten aus regiert wurden. Sogar die Art und Weise der Kriegsführung – das schnelle, massierte Auftauchen, der Vorwärtsdrang, die Sturmangriffe auf breiter Front – ähnelt dem Vorgehen der mittelalterlichen Kalifatstruppen, die binnen kürzester Zeit riesige Gebiete eroberten.

Ein Mythos wird wieder belebt

Diese Ideologie macht auch den Unterschied zu Al Kaida aus. Osama bin Laden wollte von der Peripherie aus, beginnend in Afghanistan und Kenia, mit Bomben den Westen demoralisieren und zum Rückzug aus dem arabischen Raum bewegen. Der „Islamische Staat“ ist angetreten, sich vom Zentrum aus mit eigener Kraft ein Reich zu erkämpfen und an die glorreichen Zeiten des Islam anzuknüpfen. Er belebt einen Mythos, der nicht nur vor Ort wirkt, sondern im ganzen islamischen Raum, bis in die muslimischen Gemeinden Europas. Die Gewaltexzesse des IS werden entweder als aufgebauscht oder als faszinierender Ausdruck von Entschlossenheit gewertet.

Der Westen kann einen Krieg gegen den IS nicht gewinnen, ohne seinen Wertekanon aufzugeben. Es ist an der muslimischen Welt, diese ideologische und konfessionelle Herausforderung zu bestehen.