Auch ein Kanzlerkandidat der Grünen wird den Zerfall des alten konsensorientierten Regierungssystems nicht aufhalten. Eine Analyse von Norbert Mappes-Niediek.

Wien - Österreich, denkt man, liegt gleich neben Deutschland. Aber verstehen kann man das Nachbarland  nur, wenn man sich vor Augen hält, dass es eben auch zwischen Italien und Ungarn liegt. Politisches Chaos und autoritäre Herrschaft: Beide Optionen sind nicht mehr ausgeschlossen.

 

Der Kanzlerwechsel vom Sozialdemokraten Werner Faymann zum Sozialdemokraten Christian Kern ist bloß ein Symptom. Die Krise dauert fort. Entscheiden wird sich die weitere Zukunft des Landes am Sonntag nächster Woche, wenn feststeht, wer Präsident wird.

Wird es der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer, wird er den neuen Kanzler bald wieder entlassen, Neuwahlen ausschreiben und seinen Parteichef Heinz-Christian Strache zum Regierungschef machen. Wird es der Grüne Alexander van der Bellen, so wird dessen Wahl den Zerfallsprozess des alten, konsensorientierten Regierungssystems nicht aufhalten. Der neue Regierungschef mag eine gute Figur machen, doch je besser er seine Sache macht, desto mehr Knüppel wird ein missgünstiger Partner ihm zwischen die Beine werfen.

   Die 80 Prozent, die sich vor drei Wochen gegen die Kandidaten von SPÖ und ÖVP entschieden haben, teilen das Gefühl, in einer Art Zwei-Parteien-Diktatur zu leben. Den ewigen Regierungspartnern ist alle gesunde Farbe abhandengekommen. Auch nach 20 Jahren Dementis, „Entpolitisierung“, sogenannter Objektivierung werden noch immer alle Schuldirektoren nach Parteibuch eingestellt. Immer noch muss man, um Förderungen zu bekommen, in den Orbit eines Mächtigen einschwenken. Aber nur auf den ersten Blick ist der Verdruss über dieses System ein liberaler Impuls. Widerpart der zähen Macht ist vielmehr „das Volk“. Dabei handelt es sich um eine in liberaleren Gesellschaften überwundene Wesenheit, von der hier jeder zu wissen scheint, wie sie tickt, wie sie denkt, wie sie fühlt.

Das Volk braucht immer ein mächtiges Gegenüber

Das Volk hat seine Mächtigen bisher stets brav gewählt, es hat ihnen gehuldigt. Wenn die dann um seine Gunst buhlten und ihm nach dem Munde redeten, hat es sie verachtet. Die Rechten in Österreich sind entsprechend nicht einfach rechts. Sie stehen „unten“. So schaffen sie es, sich trotz ihrer autoritären Ausrichtung die obrigkeitsfeindlichen Impulse ihrer Wähler zunutze zu machen.

Wenn sich so unterschiedliche Persönlichkeiten wie André Heller und der Wiener Kardinal Schönborn – letzterer nur schwach verbrämt – für van der Bellen ins Zeug legen, dann hilft das dem grünen Kandidaten nicht. „Sie haben eben die Haute-Volée“, hielt im Fernsehduell der rechte Norbert Hofer dem linken „Herrn Doktor“ vor. „Wir haben das Volk.“

Umgekehrt sind die Grünen im Gefühl des sogenannten Volkes auch nicht links. Ihre demonstrative Vernünftigkeit, ihr hoher Akademikeranteil machen sie vielmehr zu einer Fraktion der Mächtigen. Und sie tappen bereitwillig in die Falle: Für nichts gibt es auf Facebook so viele Likes, wie wenn einer die Rechtschreibfehler in FPÖ-Flugblätter anstreicht. Die Grünen, das ist die „Frau Professor“, wie hier die Lehrer angeredet werden.

Als Österreich im Januar die Balkanroute schloss und damit seiner Sehnsucht nach Identität und Sicherheit Ausdruck gab, dauerte es nur wenige Wochen, bis die Spitzen der Regierung sich wieder um den Schulterschluss mit Berlin bemühten. Wirklich eigenständiges Handeln traut der Akteur, „das Volk“, sich selbst nicht zu. Er braucht immer ein mächtiges Gegenüber. Kommen die Regierungsparteien abhanden, werden Brüssel und Berlin als Reibebaum dienen. Sie werden es aushalten.