Der Streit um den Mindestlohn ist zwar nicht zum polarisierenden Thema im Wahlkampf geworden, wie es die Opposition geplant hatte. Dennoch trägt der Kampf gegen niedrige Löhne Früchte, analysiert der StZ-Redakteur Matthias Schiermeyer.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Am Sonntag geht ein mindestens eineinhalbjähriger Wahlkampf zu Ende, der in erster Linie um ein Thema kreiste: die soziale Gerechtigkeit. Weil früh absehbar war, dass die Oppositionsparteien vor allem auf diesem Feld eine Siegchance sahen, wollte die Union keine Flanke offen lassen und veränderte ihre Koordinaten. Regierungshandeln und wahltaktische Überlegungen gingen praktisch ineinander über. Somit hat die Bundestagswahl die Republik schon verändert, bevor die ersten Stimmen ausgezählt sind.

 

Am leichtesten lässt sich der Wandel an den Reaktionen der Wirtschaftsführer bemessen, die diesbezüglich fast alle großen Parteien gegen sich sehen. Selten zuvor waren sie so genervt von den Wahlkämpfern, die angeblich Deutschland nur noch schlechtreden. Dabei fahren die Unternehmen mit der Politik alles in allem prächtig.

Dass das Thema Gerechtigkeit im Wahlkampf nicht so polarisiert, wie es die Opposition gern sähe, zeigt sich beim Mindestlohn. Mittlerweile sprechen sich alle Parteien – halbherzig auch die FDP – dafür aus. Nur die Rezepte unterscheiden sich. Die Union bevorzugt den „Mindestlohn light“: Überall dort, wo Tarifpartner die Kraft haben, sollen sie eine Untergrenze errichten. Wo ihr Einfluss nicht reicht, soll eine paritätisch besetzte Kommission tätig werden. Da es Abweichungen nach Regionen und Branchen geben darf, entstünde daraus ein Flickenteppich mit begrenzter Wirkung.

Mindestlöhne gelten für vier Millionen Beschäftigte

Nach dem Kabinettsbeschluss für das Steinmetzhandwerk am Mittwoch gelten Mindestlöhne für vier Millionen Beschäftigte in zwölf Branchen. Dies und die Anhebung der Entgelte in der Zeitarbeit einen Tag zuvor sieht die Union als Bestätigung ihrer Strategie, Arbeitgebern und Gewerkschaften möglichst viel Spielraum zu geben. Das Ganze riecht nach PR-Aktion kurz vor der Wahl, denn die Steinmetze eignen sich kaum als Referenzbeispiel. Offenkundig ist immerhin, dass die Politik mit dem Ruf nach Lohnuntergrenzen einen Sog erzeugt, der peu à peu Ergebnisse zeitigt.

Ein Stimmungsumschwung ist möglich: Nachdem die Tariflandschaft jahrelang auseinandergefallen ist, sehen mittlerweile zumindest die verantwortungsvollen Unternehmer ein, dass die Billigmasche kein tragfähiges Modell für Deutschland sein kann. Niedrigstlöhne werden von ihnen offen mit einem Bann belegt. Zur Realität gehört aber auch, dass es vereinzelt in Vorzeigebranchen und erst recht darüber hinaus noch weite Bereiche gibt, wo eine unwürdig bezahlte Arbeit weiterhin üblich ist. Dort könnte die Regierung mit ihrem differenzierten Vorgehen scheitern.

Das Gezänk ist ein Prinzipienstreit

Dieser Satz gehörte zu den großen Wahlkampfschlagern: Sieben Millionen Menschen erhalten einen Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro. Daraus ziehen SPD und Grüne den Schluss, dass nur ein flächendeckender Mindestlohn in dieser Höhe massenhafte Armut eindämmen kann. Die Linke fordert zehn Euro. Befürworter und Gegner des Instruments sind mit vielen hohlen Argumenten unterwegs. Beispielsweise lässt sich die Behauptung nicht beweisen, dass eine gesetzliche Untergrenze Arbeitsplätze vernichte. Selbst wenn einzelne Anbieter aufgeben müssen, dürfte der Bedarf an Arbeitskräften bestehen bleiben. Die meisten Niedriglohnjobs lassen sich ohnehin nicht ins Ausland verlagern.

Umgekehrt ist ein Schutz des Arbeitsmarktes vor Billigkräften aus den Armenhäusern Europas unumgänglich. Das wissen auch die jeweiligen Arbeitgeberverbände, weshalb sie den Branchenuntergrenzen gerne zustimmen. Folglich hat das Gezänk über den gesetzlichen Mindestlohn eher den Charakter eines Prinzipienstreits, denn mehr noch als die 8,50 Euro fürchten die Wirtschaftsverbände weitere mögliche Regulierungsschritte einer fortgesetzt sozialdemokratisierten Bundesregierung – weshalb auch die Abneigung gegen eine Große Koalition nicht zu übersehen ist.