Die SPD hat ihren Kanzlerkandidaten Martin Schulz mit 100 Prozent Zustimmung zu ihrem neuen Vorsitzenden gewählt. Ohne Regierungsposten hat der neue Parteichef nun auch gute Chance auf das höchste Amt in der Republik, analysiert Berlin-Korrespondent Christopher Ziedler.

Berlin - Opposition ist Mist. So hat das in seiner schnoddrigen Art der einstige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering formuliert. Regierung, das zeigt sich jetzt, ist aber auch Mist. Die regierende Angela Merkel muss sich mit den Erdogans und Trumps dieser Welt herumschlagen, während ihr Herausforderer Martin Schulzam Sonntag sage und schreibe einstimmig zum Kanzlerkandidaten und Chef der Sozialdemokratie gekürt – sich weiter euphorisch feiern lassen darf.

 

Was wurde nicht alles geschrieben, als der Mann aus Brüssel für das höchste Berliner Regierungsamt gehandelt und schließlich ins Rennen geschickt wurde. Er müsse Minister in der großen Koalition werden, um im Wahlkampf Regierungserfahrung jenseits des Rathauses von Würselen vorweisen zu können. Als dann klar wurde, dass der 61-Jährige bis zur Bundestagswahl im Herbst nicht am Kabinettstisch Platz nehmen wird, frohlockten sie in der CDU. Dem Kontrahenten, so die Annahme, werde es ohne regierungsamtliche Termine an Gelegenheiten zur Selbstdarstellung fehlen, während die Kanzlerin auf der großen Bühne – salopp formuliert – mal eben die Welt retten und sich den Wählern als erfahrene Macherin präsentieren könne.

Schulz wird als frisches Gesicht wahrgenommen

Das glatte Gegenteil ist eingetreten: Schulz wird – obwohl seine Partei von den letzten 19 Jahren 15 im Bund mitregiert hat – vor allem als frisches Gesicht von außen wahrgenommen, als Vertreter einer, wenn man so will, unverbrauchten Oppositionspartei. Das ist die SPD nicht, aber aus dem vermeintlichen Nachteil mangelnder Regierungserfahrung scheint ein Vorteil geworden zu sein, weil der Überdruss an der großen Koalition enorm ist und Schulz ihr nicht angehört. Er kann ohne Regierungsamt stärker so auftreten und reden, dass ihn die Menschen sofort verstehen und als authentisch wahrnehmen. „Er sagt, was er denkt“, lautete denn auch die erste Botschaft im Schulz-Werbevideo auf dem Parteitag.

Die Genossen berauschen sich an ihrem Kandidaten, den hochgeschnellten Umfragewerten, der großen Zahl neuer Mitgliedern und an sich selbst. Das neudeutsch so genannte Momentum ist auf ihrer Seite.

Abschreiben darf man die so erfahrene Merkel deshalb jedoch nicht – gewählt wird schließlich erst in einem halben Jahr. Chancen zu glänzen bekommt sie derzeit aber nur wenige. Die Welt befindet sich im Schadensbegrenzungsmodus. Die Kanzlerin mag nach dem Brexit-Votum die EU notdürftig zusammengehalten, zu einer klareren Sprache gegenüber dem türkischen Staatschef gefunden oder mit ihrem skeptischen Blick Richtung Trump gerade eine gute Figur im Weißen Haus abgegeben haben – Klartext aber kann sie sich kaum erlauben. So lautet ihr wenig attraktives Wahlversprechen, dass es vielleicht weniger schlimm kommt als befürchtet. In der Innenpolitik hat Merkel jenseits der Digitalisierung kein großes Thema, mit dem härten Kurs in der Asyl- und Sicherheitspolitik, den ihr die eigene Partei verordnet hat, fremdelt sie.

Schulz hat im Moment die besseren Karten

In der Summe spricht einiges dafür, dass Schulz derzeit die besseren Karten hat – gerade als Nicht-Regierungsmitglied. Ob sich daran jetzt etwas ändert, da er am Wochenende zum SPD-Vorsitzenden gewählt und damit zum Teilnehmer der Koalitionsgipfel mit Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer geworden ist? Kann ihm also der Bonus des Nicht-Regierenden noch abgesprochen werden? Kaum, dazu ist die Zeit wiederum zu kurz. Sollten doch noch ungemütliche Entscheidungen zu fällen sein, zeigt Seehofers Beispiel, dass man es durchaus zu einer gewissen Meisterschaft im gleichzeitigen Regieren und Opponieren bringen kann.

Regieren ist also Mist, zumindest bis zum 24. September. Danach will die SPD regieren, nur eben nicht mehr als Juniorpartner. Diesen Anspruch hat Martin Schulz auf dem Parteitag eindrucksvoll erneuert. Was Ende Januar noch keck und übermütig klang, hört sich inzwischen doch deutlich realistischer an.