Gemessen an der Gehaltssteigerung von 6,3 Prozent haben die Gewerkschaften einen Punktsieg errungen. Ein Kommentar von Matthias Schiermeyer.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Potsdam - Ein Tarifkompromiss muss beiden Seiten wehtun. Insofern ist es ein gutes Zeichen, wenn sowohl die Vertreter von Bund und Kommunen als auch die Gewerkschaften jetzt vielfach die Floskel von der Schmerzgrenze bemühen, an die sie in Potsdam gegangen seien. Wenn man den Tarifkampf im öffentlichen Dienst jedoch wie ein Ringrichter bewerten wollte, dann müsste man Verdi-Chef Bsirske wohl den klaren Punktsieg zuerkennen.

 

6,3 Prozent Gehaltserhöhung in zwei Jahren ist ein stattlicher Wert, der an selige Gewerkschaftszeiten erinnert. Und er ist ein deutliches Signal für mehr Verteilungsgerechtigkeit: Demnach profitieren nicht mehr nur die Wohlhabenden und Gutverdiener von wirtschaftlich glänzenden Zeiten. Jetzt findet der Konjunkturboom auch für einen großen Teil derjenigen Beschäftigten statt, denen die Preissteigerung gerade auf dem Energiesektor zuletzt jedes schwache Lohnplus weggefressen hat.

Bessere Chancen bei der Nachwuchswerbung

Die 6,3 Prozent tun auch dem Ruf des öffentlichen Dienstes gut. Nunmehr kann er gute Nachwuchskräfte nicht mehr nur mit sicheren Arbeitsplätzen, sondern auch mit einer angemessenen Bezahlung locken. Andernfalls hätte der öffentliche Dienst den Wettbewerb mit der Privatwirtschaft hoffnungslos verloren. Künftig wird die Lohnschere wieder ein Stück geschlossen.

Durchgedrückt haben die Gewerkschaften die 6,3 Prozent mit nur zwei Warnstreikwellen. Nicht mal eine Schlichtung war vonnöten, was sich vor allem Bundesinnenminister Friedrich als Verdienst ans Revers heften dürfte. Es unterstreicht die Einigungsbereitschaft der Union. In diesen für sie lausigen Wahlkampfzeiten mochten sich CDU und CSU keinen weiteren Konfliktherd zumuten und als Parteien der sozialen Kälte vorführen lassen. Welche Wellen so ein Vorwurf schlägt, lässt sich derzeit am Fall Schlecker und der FDP betrachten.

Kommunen können die vier Milliarden kaum tragen

Leidtragende des Konsenskurses sind die Kommunen, die – pekuniär gesehen – tief im Dreck stecken. So mag es auf den ersten Blick absurd erscheinen, dass die Städte und Gemeinden jährlich vier Milliarden Euro zusätzlich für Personalkosten ausgeben sollen, obwohl der Gesamtschuldenberg schon 130 Milliarden Euro beträgt. Doch helfen die alten Reflexe, wonach die Gewerkschaften maßlos agieren, kaum weiter. Denn erstens sind nicht die Beschäftigten für die roten Zahlen verantwortlich, sondern Politiker. Zweitens ist die Lage der Haushalte sehr unterschiedlich. Und drittens können sich diejenigen Städte, die ihre Mitarbeiter von immer neuen Kassenkrediten finanzieren, ohnehin keine Lohnzuwächse mehr leisten. Sie müssen in jedem Fall weitere Aufgaben streichen, Gebühren erhöhen und noch mehr Miese machen, wenn niemand hilft.

Mindesterhöhung nicht durchgesetzt

So ist man rasch bei dem jüngst neu aufgeflammten Ost-West-Konflikt angelangt: Nicht nur das Ruhrgebiet hat wenig vom Boom, weil die Sozialausgaben die Gewerbesteuerzuwächse locker egalisieren. Nach dem Tarifabschluss steht der Bund erst recht in der Pflicht, die wirtschaftsschwachen Regionen im Westen nachhaltiger zu fördern. Strukturhilfe darf nicht mehr nur eine Frage der Himmelsrichtung sein.

Einen Teil der Lohnzuschläge kassiert der Bund über höhere Steuererlöse ohnehin wieder ein. Aus Beschäftigtensicht bedeutet dies, dass die 6,3 Prozent im Tarifvertrag wegen der Steuerprogression viel besser aussehen, als es sich netto auf dem Gehaltszettel darstellt. Am wenigsten werden die Bezieher geringer Einkommen jubeln. Kategorisch hatte der Verdi-Chef in den Kundgebungen einen Sockelbetrag von 200 Euro verlangt. Wort halten konnte Bsirske nicht. Dies mag ihm in den eigenen Reihen schaden. Dass er es aber nicht auf einen Arbeitskampf ankommen ließ, ist ihm zugute zu halten. Allen Verwerfungen zum Trotz: Die funktionierende Tarifpartnerschaft hat noch immer einen hohen Wert für den sozialen Frieden im Lande.