Tor! So einfach ist das. Stefan Kießlings Treffer gegen Hoffenheim ist nun offiziell ein Tor, obwohl jeder weiß, dass es nie hätte gegeben werden dürfen. Eine offensichtliche Ungerechtigkeit wird nicht wiedergutgemacht. Doch so einfach ist das nicht, meint unser Autor.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Tor! So einfach ist das. Stefan Kießlings Treffer gegen Hoffenheim ist nun offiziell ein Tor, obwohl jeder weiß, dass es nie hätte gegeben werden dürfen. Eine offensichtliche Ungerechtigkeit wird nicht wiedergutgemacht, so traurig das ist. Das entspricht einfach nicht dem Geist des Sports, und doch ist der Fall komplexer. Es geht um Tatsachenentscheidungen im Fußball und die Sorge vor einer Flut von Verfahren, etwa wenn Tore gegeben werden, ohne dass der Ball wirklich hinter der Linie war.

 

Es ging im vorliegenden Fall aber nicht nur um ein Tor, sondern um mehr. Leverkusens Phantomtreffer hat eine Debatte über die Torlinientechnologie sowie eine Wertediskussion im Sport entfacht. Stefan Kießling war sich offensichtlich nicht sicher, was eigentlich passiert war, und sollte deshalb auch nicht an den Pranger gestellt werden. Aber andere Spieler oder Funktionäre, die es wussten, haben dem Schiedsrichter nicht mitgeteilt, dass der Ball erst neben dem Tor war – so wurde ein grobes Foul am Sport nicht verhindert. Sportgerichte können nun nicht reparieren, was auf dem Platz versäumt worden ist.

Ist die Forderung nach Ehrlichkeit naiv?

Doch ist die Forderung nach Ehrlichkeit naiv? Gar weltfremd? Oder heuchlerisch, weil Sportler keine besseren Menschen sind und sich jeder fragen muss, wie er wohl reagieren würde und wie fair und ehrlich wir eigentlich in unserem Alltag sind?

Ist es nicht, weil wir zu Recht einen hohen Maßstab an den Sport anlegen. Er soll Werte vorleben, die wir als Gesellschaft für erstrebenswert erachten. Nicht zuletzt deshalb wird er vom Staat gefördert. Athleten sind Multiplikatoren und als Vorbilder für Kinder wichtig für die Gesellschaft.

Fairplay ist der kategorische Imperativ des Sports, ja, unseres Zusammenlebens. Handele so, wie du auch behandelt werden möchtest – das ist die Basis. Im Sport wie in der Gesellschaft hat diese Maxime einen schweren Stand. In einigen Disziplinen gehen Experten von nahezu flächendeckendem Doping aus. Einige der größten Helden haben sich als Betrüger entpuppt, viele Korruptionsaffären haben die Sportorganisationen erschüttert. Das System Leistungssport ist in Teilen krank und kaputt.

Fairness erfordert Charakterstärke

Der Ehrliche ist also der Dumme? Fairness erfordert fraglos immer Charakterstärke und ein hohes Maß an persönlicher Integrität, wenn es um viel Geld und Ruhm geht, aber speziell im Sport auch den Respekt der Öffentlichkeit. Von Zuschauern, Mitspielern und Verantwortlichen, die faires Verhalten einem Sieg um jeden Preis vorziehen. Im Fußball gibt es das taktische Foul. Es ist ein bewusster Regelverstoß, der Schlimmeres verhindern soll, zum Beispiel einen gefährlichen Konter durch Festhalten des Gegners zu stoppen. Die Alternative wäre, nichts zu tun und ein Gegentor zu riskieren. Das wäre fair – oder dumm? Letzteres würden wohl viele Fans sagen, wenn so zum Beispiel in einem WM-Finale der entscheidende Treffer fallen würde.

Fairness ist aber kein Gut, das sich gegenüber anderen Interessen abwägen lässt, so schwer es im konkreten Fall sein kann, Egoismus zu unterdrücken. Es ist nicht situationsabhängig. Ehrlichkeit ist eine innere Einstellung und die Bereitschaft, negative Folgen in Kauf zu nehmen. Ein Sportsmann gibt einen Vorteil zurück, den er regelwidrig zugesprochen bekommen hat. Athleten wie Steffi Graf oder Dirk Nowitzki stehen für das Ideal des Sports. Oder Timo Boll, der ein weltweit beachtetes Beispiel für Fairplay gab: Der Tischtennisstar zeigte 2005 im WM-Achtelfinale bei eigenem Matchball an, dass der Ball seines Gegners noch die Tischkante berührt hatte. Weder der Schiedsrichter noch irgendjemand anderes hatte dies erkannt, sein Rivale wollte ihm schon zum Sieg gratulieren. Boll verlor das Spiel noch. Er sagt: „Eine große Liebe betrügt man nicht.“

Verpasste Ehrlichkeit lässt sich nicht wiedergutmachen – siehe Hoffenheim.