Grüne und SPD können zwar gemeinsam eine Regierung bilden, doch diese bleibt fragil. Ein Kommentar von Reiner Ruf.
Stuttgart - Ein freudiges "Heureka", rief einst Archimedes von Syrakus, als er - von einer plötzlichen Eingebung übermannt - ein wichtiges physikalisches Problem gelöst hatte. Von einem Heureka war am Mittwoch jedoch nichts zu hören, als die Unterhändler von Grünen und SPD den dritten Versuch erfolgreich abschlossen, einen tragfähigen Kompromiss in ihrem Dauerstreit über das Bahnprojekt Stuttgart 21 zu zimmern. Zwar zeigten sie sich nach zähem Ringen erleichtert, doch erfolgreich waren sie allein in dem Bemühen, die Koalitionsgespräche über den Abgrund des Scheiterns hinweggeführt zu haben. Und tragfähig ist das Verhandlungsergebnis nur insofern, als es den beiden Parteien ermöglicht, ungeachtet ihres fortwährenden Interessengegensatzes Mitte Mai eine Regierung zu bilden.
Dann werden sich beide Seiten sehr bald mit der ganzen Breite der Landespolitik konfrontiert sehen - mit all den Aufgaben, Chancen und Problemen, die das Regieren eines bisher erfolgreichen Flächenstaates mit sich bringt. Dann kann sich auch, so mögen die Optimisten und die konstruktiv Denkenden unter den Grünen und Sozialdemokraten hoffen, so etwas wie ein "esprit de corps" im positiven Sinn des Wortes herausbilden. Denn eines solchen bedarf es zum Regieren in einer Koalition, wenn die Beteiligten schon nicht von einem gemeinsamen Projekt sprechen wollen.
Auf den ersten Blick überwiegt ein Vorteil für die Grünen
Der neuen grün-roten Landesregierung steht jetzt also kein erkennbares Hindernis mehr entgegen - ihrem dauerhaften Erfolg jedoch schon. Denn Grüne und SPD halten an ihren einander ausschließenden Positionen zu Stuttgart 21 fest. Der Konflikt ist nur mühsam zugekleistert. Bei erster Besichtigung des Kompromisses überwiegt ein Vorteil für die Grünen. Von den drei wesentlichen Bausteinen, auf denen er gründet, kommen zwei aus der Werkstatt der künftigen Ministerpräsidentenpartei. Erstens vermochten sie durchzusetzen, dass das Land seinen Finanzierungsanteil definitiv auf 4,5 Milliarden Euro begrenzt. Das entspricht zwar auch einem SPD-Parteitagsbeschluss, doch hatten führende Sozialdemokraten lange Zeit darauf beharrt, bei überschaubaren Mehrkosten könne sich das Land nicht völlig versagen.
Man darf davon ausgehen, dass die Grünen nun alles daransetzen werden, die Bedingungen des Stresstests für den Tiefbahnhof so zu gestalten, dass dieser Kostenrahmen gesprengt wird. Die Chance dafür bietet der Fahrplan, der dem Belastungstest zugrunde gelegt wird. Überlebt das Projekt den Stresstest, kommt es zwar zu einer Volksabstimmung, doch diese - das ist der zweite Erfolg der Grünen - befasst sich lediglich mit dem Tiefbahnhof, nicht mit der Neubaustrecke. Für die Sozialdemokraten bedeutet dies einen Rückschlag, betrachten sie doch den Tiefbahnhof als wesentliche Voraussetzung für ihr eigentliches Ziel, die Landeshauptstadt in das europäische Schnellbahnnetz einzubinden. Ein Votum allein gegen den Bahnhofsneubau ist leichter zu erzielen als gegen das Gesamtprojekt. Denn was geht die Baden-Württemberger abseits der Landeshauptstadt deren Bahnhof an? Da vermag es die Genossen nur wenig zu trösten, dass sich Grün-Rot ausdrücklich zu der Schnellbahnstrecke bekennt. Der SPD-Verhandlungsführer Nils Schmid hat bereits angekündigt, das Junktim zwischen Bahnhof und Schnellstrecke im - so seine Worte - Wahlkampf um die Volksabstimmung herauszustreichen.
Auf der Habenseite können die Sozialdemokraten verbuchen, dass die Volksabstimmung nach den Regeln der Verfassung und nicht flink an ihr vorbei ausgestaltet wird. Versagen sich CDU und Grüne im Landtag einer Absenkung des Zustimmungsquorums von einem Drittel der Wahlberechtigten, dann bleibt es bei dieser hohen Hürde. Ob dieser Kompromiss indes geeignet ist, nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die grün-rote Koalition dauerhaft zu befrieden, steht in den Sternen.