Das Votum der Schweizer festigt einen Trend: das Prinzip der Freizügigkeit in der Europäischen Union wird in Frage gestellt. Dies ist ein Angriff auf Europas Kern, meint der Brüsseler StZ-Korrespondent Christopher Ziedler.

Brüssel - Keine Frage, diese Volksabstimmung markiert eine Zäsur – nicht nur für die Schweiz, die sich damit von der Europäischen Union distanziert, sondern auch für die Gemeinschaft selbst. Die Eidgenossen gehören bekanntlich nicht zur EU, doch macht das Freizügigkeitsabkommen die Schweiz zu einem Teil des gemeinsamen Binnenmarkts. Und erstmals überhaupt stellt ein Land aus diesem Raum des freien Austauschs von Menschen, Waren, Kapital und Dienstleistungen eben jenes Grundprinzip infrage. Es geht also um den Kern der Europäischen Union.

 

Das Ja der Schweizer zur Begrenzung der Zuwanderung von EU-Bürgern ist auch deshalb so bedenklich, weil es keinen „Ausrutscher“ darstellt, sondern in den europaweiten Trend der vergangenen Monate passt. Die sozialen Probleme, die es mit Roma-Flüchtlingen aus Bulgarien und Rumänien auch in deutschen Städten gibt, haben Zweifel am Prinzip der offenen Grenzen geweckt. Die unklare Gesetzeslage sowohl in den Nationalstaaten als auch auf europäischer Ebene, wenn es um das Anrecht auf Arbeitslosenhilfe für EU-Ausländer geht, ließen die Zweifel noch wachsen – und Parteien am rechten Rand wissen nur zu gut daraus Kapital zu schlagen. Das Schweizer Votum, das die Rechten als Sieg der Demokratie über das undemokratische Monster Brüssel feiern, wird ihnen für die Europawahl weiteren Auftrieb bescheren.

Die EU-Kommission macht es sich zu einfach

Den einfachen Antworten von rechts entgegenzutreten gelingt bisher kaum. Die EU-Kommission versucht erst gar nicht, neu für die alte Errungenschaft Europas zu werben, sondern redet nur vom „heiligen“ Prinzip der Freizügigkeit – in der falschen Annahme, dass die Menschen ihr automatisch folgen. Viele nationale Regierungen wiederum zündeln mit, wenn sie mit markigen Worten Veränderungen der freizügigen Praxis vor Ort fordern – an vorderster Front die britische. Gewählt wird am Ende aber meist das Original und nicht die Kopie.

Irreale Angstmache ist ein realer Faktor in der europäischen Politik geworden. Die als ein Grund für das Schweizer Ja angeführte Sorge vor Jobverlust gehört bei einer Arbeitslosenquote von 3,6 Prozent in diese Kategorie. Dabei schaffen die Verträge der EU, zu der die Schweiz hier gezählt werden darf, von jeher einen Interessenausgleich und bringen allen Staaten Vorteile, für die sie gewisse Nachteile in Kauf nehmen. Das ist kein Nullsummenspiel, sondern hat unter anderem den EU-Binnenmarkt als wichtige Säule unseres Wohlstands hervorgebracht. Die Freizügigkeit von Personen sowie von Kapital, Waren und Dienstleistungen gehören dabei untrennbar zusammen – sonst wäre Europa noch wirtschaftlastiger, als es schon ist.

Die EU muss einen Spagat versuchen

Umso dringender ist, die realen Probleme nicht zu ignorieren. Um sicherheitsrelevante Begleiterscheinungen der Freizügigkeit haben sich die Innenminister früh gekümmert, die sozialpolitischen blieben ein Stiefkind. Hier gibt es Nachholbedarf: Sei es bei der Bereitstellung von Geld aus dem EU-Sozialfonds für städtische Problemviertel oder der überfälligen Klärung, wann der Gleichheitsgrundsatz gilt und wann bereits existierende Einschränkungen der Freizügigkeit greifen. Lohndumping muss bekämpft werden, indem die Entsenderegeln für Arbeitnehmer wirklich kontrolliert und eingehalten werden. Langfristig gehört ein System europäischer Mindestlöhne auf die Tagesordnung.

Nun die Freizügigkeit als Organisationsprinzip preiszugeben hieße, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Jene, die Europa am liebsten abwickeln wollen, wissen, dass ihr Ziel in Sichtweite käme, würde Hand daran gelegt. Die EU muss einen Spagat versuchen: Das Schweizer Votum muss einerseits als Ausdruck eines Unbehagens akzeptiert werden, das auch viele Deutsche, Franzosen oder Briten erfasst hat. Zugleich bedarf es einer anderen Antwort als der, die die Eidgenossen gegeben haben.