Der Streit im öffentlichen Nahverkehr ist schon zu weit eskaliert. Die Tarifparteien sollten sich annähern – ohne Tabus, meint Matthias Schiermeyer.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Im öffentlichen Stuttgarter Nahverkehr ist der Streit zwischen der Gewerkschaft Verdi und den kommunalen Arbeitgebern über bessere Einkommensbedingungen so weit eskaliert, dass auf die Busse und Stadtbahnen der SSB kein Verlass mehr ist. Die Ereignisse überschlagen sich. Sicher ist: auch am Mittwoch wird wieder gestreikt. Eine quasi in letzter Minute geschlossene Notdienstvereinbarung ermöglicht wenigstens am Donnerstag und Freitag einen halbwegs regulären Verkehr.

 

Hunderttausende sind von dem Konflikt betroffen. Man kann den Zorn der Fahrgäste gut verstehen, die auf ein öffentliches Verkehrsmittel angewiesen sind - seien es Pendler, Schüler oder Bürger, die solch unabänderliche Termine wie Arztbesuche wahrnehmen müssen. Hinzu kommt der Ärger über den finanziellen Verlust: Viele Kunden haben Monatskarten und können diese an den Streiktagen nicht nutzen. Das Argument, dass der Arbeitskampf oft das letzte legitime Mittel ist, mit dem Arbeitnehmer ihre Interessen durchsetzen können, verliert für Betroffene schnell an Gewicht.

Es hätte nicht so weit kommen müssen. Verdi hatte zunächst eine verhältnismäßig zurückhaltende Arbeitskampfstrategie gewählt. Von den Warnstreiktagen vor zwei Wochen und dem Streiktag der Fahrer in der vorigen Woche ging das Signal aus, die Kunden nicht im Übermaß in Mitleidenschaft ziehen zu wollen. Diese Absicht gilt für die anderen großen Städte in Baden-Württemberg nach wie vor. In Stuttgart jedoch suchen beide Seiten die Zuspitzung - die Entscheidungsschlacht sozusagen.

Vergleichbares hat es hierzulande noch nie gegeben

Ihr Ausgang dürfte über den Südwesten hinaus Aufmerksamkeit erregen. Er wird Auskunft geben über die Kräfteverhältnisse zwischen den Arbeitgebern und der Gewerkschaft im öffentlichen Dienst. Verdi mag sich von der Parole leiten lassen: Wenn wir uns in Stuttgart nicht durchsetzen, obwohl wir hier so gut organisiert und arbeitskampfwillig sind - wo denn dann? Diese Ausgangslage lässt eine anhaltend starre Haltung auf beiden Seiten befürchten.

Weil Verdi nun in der Landeshauptstadt die Werkstätten bestreikt, wollte der SSB-Vorstand den Fahrbetrieb in dieser Woche zunächst komplett einstellen. Keine Frage, die Fahrzeuge müssen hundertprozentig sicher sein, wenn sie auf die Strecke gehen. Wer würde sonst die Verantwortung bei Unfällen übernehmen wollen? Somit bot die Gewerkschaft an, den Notdienst entsprechend zu erweitern. Doch lehnte die SSB-Führung erst einmal ab und setzte sich damit dem dringenden Verdacht aus, dass die Streikwirkung unverhältnismäßig verstärkt werden sollte, um die Bürger gegen Verdi aufzubringen. So sollten Sozialpartner nicht miteinander umgehen.

Darüber hinaus will das Unternehmen den SSB-Fahrern den Lohn für mehrere Tage vorenthalten, obwohl diese nur für Mittwoch zum Streik aufgerufen werden. Vergleichbares hat es hierzulande noch nie gegeben. Der Anlass für die SSB AG mag formal eine Betriebsstilllegung sein. Doch der Unterschied zur kalten Aussperrung, bei der Dritte gezielt vom Arbeitsplatz ferngehalten werden, ist gering. Nach historisch schlechten Erfahrungen in der Metallindustrie sind die Gewerkschaften an der Stelle besonders empfindlich. Eine Aussperrung ist keine soziale Waffe. Das sollte jedem bewusst sein, der mit derlei Maßnahmen hantiert. Aus gutem Grund haben öffentliche Arbeitgeber bisher darauf verzichtet.

Es ist, als ob zwei Bahnen aufeinander zurasen, und der Fahrgast steht in der Mitte. Höchste Zeit zur Deeskalation. Auch Oberbürgermeister Wolfgang Schuster - immerhin Vorsitzender des SSB-Aufsichtsrats - könnte seinen Einfluss auf die Arbeitgeber ausüben. Am Donnerstag wird wieder verhandelt. Da reicht es nicht mehr, der anderen Seite die Schuld zuzuschieben. Die Kontrahenten sind gehalten, sich anzunähern. Dabei darf es keine Tabus geben - auch eine Schlichtung muss jetzt möglich sein.