Das Streikrecht ist ein hohes Gut. Wenn aber das Gebot der Verhältnismäßigkeit in Frage gestellt wird, wie bei den Lufthansa-Piloten, könnte das Grundrecht von politischen Gegnern beschädigt werden, warnt der StZ-Autor Matthias Schiermeyer.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Einen solchen Streik, wie er in den nächsten drei Tagen bei der Lufthansa geplant ist, hat der deutsche Luftverkehr noch nie erlebt. Fast eine halbe Million Passagiere werden davon betroffen sein. Die Ausstände ballen sich: jetzt die Piloten, Mitte voriger Woche der öffentliche Dienst inklusive der Flughäfen – zudem die Zeitungsredakteure und Amazon-Beschäftigten. An vielen Stellen wollen Arbeitnehmer auf der Straße Kompromisse erzwingen. Stecken deutsche Gewerkschaften sozusagen im Streikfieber? Sicher nicht.

 

Parallelen lassen sich kaum ziehen, weil die Umstände der Arbeitskämpfe und die Motive der Akteure nicht zu vergleichen sind. So will die Pilotenvereinigung ein Gehaltsplus von zehn Prozent durchdrücken und die großzügige Übergangsversorgung erhalten. Auch künftig sollen Flugzeugführer mit 55 Jahren ausscheiden dürfen – bei bis zu 60 Prozent der Bruttobezüge. Cockpit kann sich üppige Forderungen leisten, denn man argumentiert aus einer Position der Stärke und Geschlossenheit heraus.

Tarifeinigung im öffentlichen Dienst forciert

Nur Eliteorganisationen befinden sich in dieser komfortablen Lage. Immer öfter jedoch haben Arbeitnehmer keine andere Wahl, als Einbußen mit Streiks abzuwehren. Ein Ausstand kann zudem sinnvoll sein, wenn er die Verhandlungen forcieren soll. Ohne die massiven Aktionen der Vorwochen wäre die Tarifeinigung im öffentlichen Dienst wohl noch nicht möglich gewesen. Der Gegenwind in den Kitas, bei der Müllabfuhr und im Nahverkehr hat die Verständigungsbereitschaft der Arbeitgeber spürbar befördert. Andernfalls hätten sie sich mehr Zeit gelassen und kein Lohnplus von bis zu 8,2 Prozent zugestanden.

Im Bereich der Kommunen ist Verdi eine Macht – andernorts fehlt ihr diese Durchschlagskraft. Dem Versandhändler Amazon etwa fällt es leicht, Streiks mit Hilfskräften auszuhebeln. Wirtschaftliche Ausfälle vermag Verdi nicht anzurichten. Eher muss die Gewerkschaft darauf hoffen, dass ihr Eintreten gegen Dumpinglöhne einen Imageschaden für Amazon bringt. Dies verlangt jedoch einen langen Atem.

Tageszeitungsredakteure kämpfen gegen Einbußen

Auch streikende Journalisten können das Erscheinen einer Tageszeitung nicht verhindern. Ihr Druck entfaltet sich, wenn überhaupt, erst auf lange Sicht. Die Zeitungsbranche große strukturelle Verwerfungen aushalten. Doch die Redakteure kämpfen nicht für herausragende Privilegien, sondern gegen eine Verschlechterung ihrer seit Langem stagnierenden Einkommen. Zudem wollen sie dem Nachwuchs Konditionen erhalten, die junge Leute künftig noch motivieren, diesen anspruchsvollen Beruf zu ergreifen – mithin einen hochqualitativen Journalismus. Der Dauerkonflikt zeigt aber vor allem eins: das greifbare Ende des Flächentarifvertrags.

Meist werden Streiks in der Bevölkerung akzeptiert – es sei denn, das Gebot der Verhältnismäßigkeit ist infrage gestellt wie jetzt bei den Piloten. Dann verlieren Arbeitsniederlegungen ihren Sinn als Ultima Ratio, als letztmögliches Mittel. Dies gibt all jenen Auftrieb, die das Streikrecht einschränken wollen. Derzeit bastelt die große Koalition an der Wiederherstellung der Tarifeinheit, also des Prinzips „ein Unternehmen – ein Tarifvertrag“. Künftig soll der Vertrag der größten Gewerkschaft im Betrieb Vorrang haben; der Rest muss sich an die Friedenspflicht halten. Die Widerstände sind beträchtlich – die juristischen Bedenken auch. Daher tut sich die Koalition schwer, eine mit der Verfassung harmonisierende Lösung zu präsentieren.

Arbeitskämpfe werden gerne als alte Rituale abgetan. Das ist kurzsichtig, denn ohne sie lässt sich kein fairer Interessenausgleich herstellen. Das Grundrecht auf Streik darf nicht beschnitten werden. Entsprechend sorgsam gehen die Gewerkschaften damit in der Regel auch um – die zunehmenden Machtdemonstrationen diverser Gruppen im Luftverkehr sollten über diesen Befund nicht hinwegtäuschen.