Der Prozess und das Urteil gegen die Politiker-Ehefrau Gu Kailai offenbart einen Blick hinter die Kulissen des chinesischen Machtapparates. In diesem Apparat ist die Machtfrage so unklar wie noch nie, meint der StZ-Redakteur Christian Gottschalk.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Natürlich ist dieses Interesse ein Stück weit ungerecht. Jedes Jahr werden in China tausende von Menschen hingerichtet. Wie viele genau weiß niemand, selbst Amnesty International gibt keine Schätzungen mehr zu diesem Thema ab. Von den allermeisten Schicksalen erfährt außerhalb des engsten Familienkreises kein Mensch, schon gar nicht nimmt die Welt Notiz davon. Nun bestimmt das Todesurteil über Gu Kailai die internationalen Schlagzeilen, obwohl diese Frau aller Wahrscheinlichkeit nach nie die Vollstreckung fürchten muss. Das ist umso erstaunlicher, da die Verurteilte vor noch nicht all zu langer Zeit kaum bekannt war außerhalb Chinas. Mit dem Sturz ihres Ehemanns Bo Xilai, der bis zum Frühjahr die Partei in Chongquing geführt hatte, hat sich das gewaltig geändert.

 

Das Interesse hat im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen ist der Mord an dem britischen Geschäftsmann Neil Heywood schon für sich genommen ein Intrigenspektakel mit Hollywoodqualitäten. Zum anderen offenbart die Angelegenheit einen Blick hinter die Kulissen eines Systems, das nach außen hin gerne Einigkeit und Harmonie zum Besten gibt, tatsächlich aber ziemlich tief zerstritten ist. Diese Tatsache ist zwar bekannt, doch handfeste Indizien lassen sich nur selten finden.

Unklare Machtfrage vor dem Parteitag

Fälle wie die Affäre Bo sind daher ein Hochgenuss für politische Fährtenleser und Vogelflugdeuter. Deren Erkenntnisse sind gefragt, denn Chinas Rolle in der Welt nimmt von Tag zu Tag an Bedeutung zu. Von Washington bis Moskau, von Berlin bis Buenos Aires oder Johannesburg will man da schon wissen, mit wem man es in Peking eigentlich zu tun hat. Zumal in diesem Jahr noch eine Reihe spannender Wechsel ansteht.

Wie alle fünf Jahre tritt in diesem Herbst wieder der Parteitag zusammen. Noch nie war die Machtfrage so unklar. Deng Xiaoping hatte seinerzeit den Weg vorgegeben, der sowohl Jiang Zemin als auch zehn Jahre später Hu Jintao an die Parteispitze führte. Nun gibt es einen heftigen Flügelkampf um die Positionen hinter dem designierten Hu-Nachfolger Xi Jinping. Hu und Jiang gehören konkurrierenden Lagern an, und letztlich mussten beide zustimmen, ehe der dem Jiang-Lager zugerechnete Bo Xilai fallen gelassen wurde. Es wird eine Abmachung mit vielen Unterpunkten gewesen sein. Einer davon lautet, es für den Verstoßenen und seine Familie nicht zum Äußersten kommen zu lassen. Deswegen wird die Todesstrafe gegen Gu Kailai nicht vollstreckt. Und um die Partei nicht in ihrer Gesamtheit in schlechtes Licht zu rücken, bleibt Bo vorerst abseits der Öffentlichkeit unter Verschluss.

Strippenzieher auch nach der Pensionierung

Ungeachtet der Differenzen innerhalb der Partei ist die Causa Bo eine Warnung an alle Politiker, sich nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen. In untypischer Manier hatte sich Bo der Medien bedient und mit seinen Erfolgen in Szene gesetzt. In einem Land, in dem Lobbyarbeit heimlich, still und leise betrieben wird, hat das selbst jenen missfallen, die dem Chef von Chongqing wohl gesonnen gegenüber standen. Die nicht gerade große Bereitschaft, sich durch mutige Äußerungen aus der Politikermasse hervor zu heben, wird durch dieses Exempel einen Dämpfer erhalten.

Und noch eines verdeutlicht die Affäre: Auch nach ihrer offiziellen Pensionierung bleiben die Führer der Partei einflussreiche Strippenzieher. Auch Hu Jintao möchte – wie seine beiden Vorgänger – nach dem Rückzug aus der Staatsspitze zunächst den Vorsitz in der Militärkommission behalten. In dem auf Proporz und Ausgleich bedachten Mauschelapparat geht das nur, wenn auch seine innerparteilichen Gegner zustimmen. Eine ruhige Hand und ein kühler Kopf bei der Herrschaft über die Volksbefreiungsarmee ist in weltweitem Interesse, erst recht, nachdem sich eine Reihe chinesischer Generäle mit nationalistischen Äußerungen hervorgetan hat.