Durfte US-Präsident Obama den Terrorchef bin Laden töten lassen? Um ihn festzunehmen fehlte es den USA an Stärke, meint Stefan Geiger.

Stuttgart - Barack Obama erklärte bereits vor seiner Wahl zum US-Präsidenten: "Wir werden bin Laden töten." US-Soldaten haben den Terroristen-Führer getötet. Und viele Amerikaner sind jetzt mit ihrem Präsidenten der Meinung: "Der Gerechtigkeit ist Genüge getan." Das ist der Kern.

 

Das vergleichsweise junge Völkerrecht ist noch in Bewegung und interpretierbar. Ob bei der Tötung das Kriegsvölkerrecht oder das gewöhnliche Völkerrecht galt, ob bin Laden ein Kriegsherr, eine Symbolfigur oder ein gewöhnlicher Krimineller war, ob er vor seiner Erschießung noch eine aggressive Bewegung gemacht hat, ob und wann welche pakistanischen Stellen in die Aktion eingebunden waren - all das sind Fragen der juristischen Hochgotik. Sie werden Seminararbeiten füllen. Und sie mögen den einen zur Rechtfertigung der Aktion dienen, anderen zur Verurteilung. Für die zentrale Frage, ob die Tötung gerechtfertigt war, ob sie gar gerecht war und ob sie moralisch verantwortbar war, sind das alles allenfalls Randaspekte.

Der Tyrannenmord stammt aus einer anderen Zeit

Es gibt, jedenfalls im Westen, nicht viele Menschen, auch nicht viele nachdenkliche und kritische Menschen, die den Tod Osama bin Ladens bedauern. Deshalb muss man sich darüber nicht gleich freuen. Man sollte sich über den Tod keines Menschen freuen. Aber der Weg über die Zufriedenheit bis hin jedenfalls zur stillen Freude ist so weit und so selten nun auch wieder nicht. Im Grunde schien die Diskussion längst abgeschlossen: Die USA töten im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet seit langem und regelmäßig mit Flugkörpern Menschen, die viel weniger Schlimmes getan und zu verantworten haben als bin Laden, sie töten Menschen, die noch gar nichts Böses getan, es nur geplant haben. Wer dazu bisher geschwiegen hat, sollte die Tötung bin Ladens nicht kritisieren.

Es gibt das Wort vom Tyrannenmord, auch wenn es dem Völkerrecht fremd ist. Kaum einer zweifelt an der Legitimität, den Tyrannen zu töten. Aber es ist ein rückwärts gewandter Begriff aus einer anderen Zeit, als die Welt noch übersichtlich war. Als der Tyrann ein Volk kujonierte und die elendig Unterdrückten sich in einem Akt der Notwehr ihres mörderischen Staatsoberhauptes entledigten.

Die Tötung belegt die realen Machtverhältnisse

Bin Laden war mehr als ein Terrorist, Al- Qaida ist mehr als eine Terrororganisation. Al-Qaida verfolgt das Fernziel, überall in der Welt Machtverhältnisse nach ihren Regeln zu schaffen, man mag es Gottesstaat nennen, in der Praxis sind es anarchistische, wenig strukturierte Gebilde, in denen ideologisch motivierte Gewalt, Unterdrückung und Grauen herrschen. Al-Qaida hat an Macht verloren. Aber sie hat noch immer Macht. Es gab und es gibt verstreut über die Welt Parzellen, in denen Al-Qaida faktisch herrscht - Parzellen der Tyrannei.

Natürlich wäre es besser gewesen, bin Laden nicht zu töten, sondern festzunehmen und ihm den Prozess zu machen. Wenn es streng nach dem Lehrbuch gegangen wäre, hätte der Terrorist auch noch vor der Todesstrafe bewahrt werden müssen. Das sind die selbst gesetzten Regeln in einer freien Welt, die eingehalten werden müssen gegenüber jedermann. Im Prinzip jedenfalls. Die USA waren dazu nicht stark genug gewesen, sie haben sich dafür nicht stark genug gefühlt. Die Tötung bin Ladens ist ein Zeichen der Schwäche. Und sie belegt die realen Machtverhältnisse.

"Erst kommt das Fressen, dann die Moral"

In der alltäglichen Realpolitik werden die selbst gesetzten Regeln allzu oft missachtet und die Moral gering geschätzt. Dagegen anzugehen ist eine immerwährende Aufgabe. Aber es gibt in extremen Ausnahmefällen auch eine Grenze, jenseits der die Durchsetzung der eigenen Regeln zur blanken Ideologie wird und selbst Unrecht schafft. Der olle Bert Brecht hatte schon recht: "Erst kommt das Fressen, dann die Moral." Das gilt auch für Barack Obama und die Weltmacht USA. Mehr zu verlangen hieße Übermenschliches zu verlangen.