Der Premierminister gewinnt die Wahl, verfehlt die Zweidrittelmehrheit jedoch. Das ist gut für die Türkei und ihre Partner.

Istanbul - Premierminister Tayyip Erdogan hat die Parlamentswahlen in der Türkei gewonnen, zum dritten Mal in Folge. Aber der erhoffte Triumph ist dieser Wahlsieg für ihn nicht. Erdogan hat sein erklärtes Wahlziel verfehlt: mindestens 330, besser noch 367 (und damit die Zweidrittelmehrheit) der 550 Parlamentsmandate, die es ihm ermöglicht hätte, die türkische Verfassung nach Gutdünken zu ändern. Jetzt muss er den Konsens mit anderen Parteien suchen. Erdogans Plan, eine Präsidialverfassung mit weitgehenden Vollmachten für das Staatsoberhaupt einzuführen, um dann selbst ins höchste Staatsamt aufzurücken, ist damit wohl erst einmal vom Tisch. Das ist gut für die Türkei und ihre Partner.

 

Es ist gut für die Türkei, weil das Land keinen starken Mann braucht, sondern eine starke Demokratie. Unstrittig ist: die Türken verdienen eine neue Verfassung. Das geltende Grundgesetz wurde 1982 während der damaligen Militärdiktatur konzipiert und trägt die Handschrift der Generäle. Es ist darauf angelegt, den Staat vor seinen Bürgern zu schützen. Diesem Ziel dient unter anderem die bereits jetzt herausgehobene Stellung des Staatspräsidenten - ein Amt, das die Militärs für sich oder ihre Marionetten reservierten, bis Erdogan 2007 seinen treuen Weggefährten Abdullah Gül gegen den erbitterten Widerstand der Generäle zum Präsidenten machte. Man könnte deshalb argumentieren, das türkische Staatsoberhaupt brauche nicht mehr, sondern weniger Kompetenzen. Schließlich machte auch Erdogan zwischen 2002 und 2007 oft die bittere Erfahrung, dass der damalige Präsident Ahmet Necdet Sezer viele demokratische Reformen einfach mit seinem Veto abblockte.

Das Land braucht eine starke Demokratie

Wenn Erdogan dennoch immer wieder eine Präsidialverfassung propagierte, dann offensichtlich vor allem für sich selbst. Politisches Fingerspitzengefühl verriet das nicht. Viele Menschen in der arabischen Welt blickten in den vergangenen Monaten bewundernd auf die Türkei. Sie schien zu demonstrieren, dass Islam, Parlamentarismus und wirtschaftliche Prosperität miteinander vereinbar sind. Dass nun ausgerechnet Erdogan sich zu einem übermächtigen Staatschef aufschwingen wollte, während sich die Araber ihrer Despoten zu entledigen versuchen, musste wie ein Anachronismus wirken, zumal vor dem Hintergrund der türkischen Verfassungswirklichkeit.

Das Staatsverständnis ist traditionell autoritär geprägt. Die Bürger haben dem Staat zu dienen, nicht umgekehrt. Braucht ein Land, das immer noch an grundlegenden Demokratiedefiziten krankt, mehr Macht ausgerechnet in den Händen eines einzigen Amtsträgers? Erdogan täte gut daran, seine Präsidentschaftsträume erst einmal zurückzustellen und auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. Denn die Türkei steht vor großen Herausforderungen, vor allem in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Erdogan verdankt diesen Wahlsieg vor allem dem Wirtschaftswunder, das die Türken seit einigen Jahren erleben. Aber jetzt zeigt die Konjunktur gefährliche Anzeichen einer Überhitzung. Die aktuelle Inflationsrate von 7,2 Prozent ist ebenso ein Alarmsignal wie das explodierende Defizit in der Leistungsbilanz. Dass Erdogan vor der Wahl die Partystimmung nicht mit einer restriktiven Geldpolitik stören wollte, mag verständlich sein. Jetzt aber muss er auf die Bremse treten, damit der Boom am Bosporus nicht in einem Crash endet.

Auch außenpolitisch ist die Türkei gefordert, vor allem durch die dramatische Eskalation der Revolte im benachbarten Syrien, die bereits Tausende von Flüchtlingen in die Südosttürkei getrieben hat. Wenn die Türkei jemals die Möglichkeit hatte, die politischen Entwicklungen in der Region zu beeinflussen, dann jetzt. Erdogan steht nach diesem Wahlsieg jedenfalls außenpolitisch stärker da als je zuvor. Er hat weitgehend freie Hand - und damit auch eine gewachsene Verantwortung.