Nach drei Jahren Finanzkrise ist die Politik nach links gerückt. Selbst Unionspolitiker fordern die Bändigung der Märkte. Ein Kommentar.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Was in den USA zu Ausschreitungen führt, findet hierzulande nur wenig Beachtung: Die Occupy-Bewegung erweist sich als überschaubarer Kreis, der meist aggressionsfrei gegen die Finanzmärkte protestiert. Die Ziele sind zu diffus, als dass die Bewegung eine greifbare Wirkung erzielen könnte. Kaum vorstellbar ist es auch, dass die Menschen hier bald in Massen auf die Straße gehen. Doch möge sich davon niemand täuschen lassen - die Wut auf Politik und Banken frisst sich durch alle gesellschaftlichen Schichten.

 

Infrage gestellt wird gleich das ganze Wirtschaftssystem, das so viel Irrationalität und Pauschalität gar nicht verdient hat. Doch Kritik am Kapitalismus ist Mode geworden. Selbst Unionspolitiker fordern die Bändigung der Märkte, wie man es bisher nur von der Linkspartei kannte. Lassen sich diese von den Regierenden überhaupt noch zähmen? Hochrespektable Unternehmer sehen in der Legitimationskrise der Politik schon eine Gefahr für die Demokratie.

Die Mittelschicht bröckelt

Angetrieben werden sie alle von einem Gefühl der Ungerechtigkeit, wonach die Finanzsysteme nur den Wohlhabenden nutzen. Die sogenannte Umverteilung von unten nach oben wird sichtbar: Studien belegen, dass sich die Spitzengehälter vom Durchschnitt der Einkommen abgesetzt haben, während die Mittelschicht bröckelt und die Niedrigverdiener abgehängt werden. Der flexibilisierte Arbeitsmarkt sorgt für weitere Verwerfungen. Erstmals seit Bestehen dieser Republik geht es den Kindern nicht mehr generell besser als ihren Eltern.

Mit ihrem Einsatz für den Mindestlohn und die Finanztransaktionssteuer - beides lange verpönt - versucht Angela Merkel, all dem etwas entgegenzusetzen. Die CDU-Chefin bringt es auf eine schlichte Formel: "Die Zeiten, in denen wir leben, ändern sich laufend." Jede Zeit müsse in ihrem Lichte betrachtet werden. Das heißt: In der Volkspartei bestimmt der Zeitgeist das Handeln. So erstaunt es kaum, wenn sich Konservative dort heimatlos fühlen. Das Bürgertum verliert die parteipolitische Orientierung.

Neoliberalismus ist am Boden

Auch die Spitzenverbände der Wirtschaft äußern offen ihre Enttäuschung über die Regierung. Viele Jahre lang haben die Verfechter neoliberaler Theorien behauptet, dass sich die freien Kräfte des Wettbewerbs selbst regulieren können. Daraufhin beseitigten die Regierenden immer mehr Schranken. Nun müssen sie den Schaden eingestehen. Der Neoliberalismus ist am Boden. Das Prinzip Markt vor Staat hat abgewirtschaftet. Der Staat greift ein und sorgt dafür, dass in der Marktwirtschaft wieder das Soziale zur Geltung kommt.

Somit wird bei CDU und FDP nicht nur um den Mindestlohn hart gerungen. Im Kern geht es um einen Wertewandel. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit unterstreichen Kanzlerin und Bundespräsident den Wert der Tarifautonomie. Welch Wende: Gerade im Dienstleistungsbereich hatte die Politik das eigenständige Handeln von Arbeitgebern und Gewerkschaften völlig verkommen lassen. Jetzt sollen sie retten, was zu retten ist. Noch zur Zeit der großen Koalition war es sehr beliebt, gegen die Gewerkschaften zu Felde zu ziehen. Heute wird ihnen allseits Respekt bekundet, weil sie sich in der Krise als stabilisierender statt aufwiegelnder Faktor erwiesen haben.

Drei Jahre sind seit dem Ausbruch der Finanzkrise vergangen. Nun erst wird offenbar, wie sich das Denken verändert hat. Unabhängig von den braunen Umtrieben am rechten Rand, die derzeit die Schlagzeilen beherrschen, rückt der Zeitgeist Stück für Stück nach links. Auch die Landtagswahlen dieses Jahres senden diesbezüglich klare Signale. Was kommt auf uns zu, wenn die Milliarden-Bürgschaften fällig werden und wir für die Krisenfolgen zahlen müssen? Massenhafter Protest wäre dann möglich. Die Lösung läge in einem gesellschaftsverbindenden neuen Miteinander, das ideologische Grenzen überwindet. Doch davon ist die Koalition noch weit entfernt.